Zeit deines Lebens
Herausforderung – nicht nur darauf, mit dreißig anderen Booten zu wetteifern, sondern vor allem auch darauf, dem Meer die Stirn zu bieten, dem Wind und den Wellen.
Sie näherten sich dem Startschiff, um sich identifizieren zu lassen. Die Startlinie befand sich zwischen einem rotweißen Pfahl auf dem Startboot und einer zylindrischen, orangefarbenen Boje in Fahrtrichtung links, also backbords. Lou ging am Bug des Boots in Stellung, während sie den Startbereich umkreisten und versuchten, die perfekte Position zu finden, von der aus sie die Startlinie genau zur richtigen Zeit überqueren konnten. Der Wind kam aus Nordost, Windstärke vier bei Flut, was bedeutete, dass die See nicht gut gestimmt war. Man musste sie genau im Auge {309 } behalten, um das Boot möglichst schnell durchs kabbelige, unruhige Wasser steuern zu können. Wie in alten Zeiten hatten Lou und Quentin darüber gesprochen und wussten beide genau, was zu tun war. Wenn sie die Linie zu früh überquerten, wurden sie disqualifiziert, und nun war es Lous Aufgabe, den Countdown auszuzählen, sie korrekt in Stellung zu bringen und dabei ständig mit dem Steuermann – nämlich Quentin – in Verbindung zu bleiben. Als Teenager hatten sie diese Kunst aus dem Effeff beherrscht, hatten zahlreiche Rennen gewonnen und hätten wahrscheinlich auch mit geschlossenen Augen segeln können, einfach nach der Windrichtung. Aber das war lange her, und die Kommunikation zwischen ihnen hatte sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert.
Lou bekreuzigte sich, als um 11 Uhr 25 das Ankündigungssignal gegeben wurde. Sie wendeten das Boot, gingen in Position, um möglichst früh und mit möglichst viel Fahrt die Startlinie zu überqueren. Um 11 Uhr 26 wurde die Vorbereitungsflagge gehisst. Um 11 Uhr 29 senkte sich die Einminuten-Signalflagge. Lou schwenkte heftig die Arme und gab Quentin Anweisungen, wo er das Boot platzieren sollte.
»Steuerbord, mehr nach Steuerbord, Quentin!«, brüllte er und schwenkte den rechten Arm. »Dreißig Sekunden!«
Sie kamen gefährlich nahe an eine andere Yacht heran. Lous Fehler.
»Eh, Backbord! BACKBORD !«, schrie Lou. »Zwanzig Sekunden!«
Alle Boote strengten sich an, eine gute Position zu finden, aber da dreißig von ihnen an der Regatta teilnahmen, würde nur ein kleiner Teil es schaffen, die Startlinie in der besten Stellung ganz in der Nähe des Startschiffs zu überwinden. {310 } Der Rest musste versuchen, das Beste aus dem Am-Wind-Kurs herauszuholen.
11 Uhr 30 kam das Startsignal, und mindestens zehn Boote überquerten die Startlinie vor ihnen. Nicht der beste Start, aber Lou weigerte sich, den Mut sinken zu lassen. Er war ein bisschen rostig, er brauchte Übung, aber dafür war keine Zeit, jetzt ging es ums Ganze.
Sie sausten dahin, Ireland’s Eye zu ihrer Rechten, links die Landzunge, aber natürlich wäre es Unsinn gewesen, in einem solchen Moment die Umgebung zu bewundern. Lou bewegte sich nicht, nur seine Gedanken rasten, er schaute auf die anderen Yachten, die dicht neben ihnen durchs Wasser rauschten, der Wind zerzauste seine Haare, sein Herz klopfte wild, und er fühlte sich so lebendig wie seit langem nicht mehr. Auf einmal war alles wieder da, was zum Segeln gehörte – wie es sich anfühlte, auf einem Boot zu sein. Vielleicht war er nicht mehr ganz so schnell, aber er hatte seinen Instinkt nicht verloren. So flogen sie übers Wasser, durchschnitten die Wellen auf dem Weg zur Luvmarke, etwa eine Meile von der Startlinie entfernt.
»Wenden!«, rief Quentin, und die Crew machte sich bereit. Er selbst behielt die anderen im Auge und steuerte. Alan, der Vorschoter, löste die Fockschot aus der Klemme. Luke, der für das Genuasegel zuständig war, vergewisserte sich, dass auch die neue Fockschot dichtgeholt war, und drehte ein paarmal an der Winsch. Ohne sich von seiner Position wegzurühren, versuchte Lou vorauszuahnen, was als Nächstes zu tun war, und beobachtete gleichzeitig die anderen Boote, dass keines ihnen zu nahe kam. Instinktiv wusste er, dass sie auf der Backbordseite kreuzten und keine Vorfahrt gegenüber den Booten auf der Steuerbordseite haben würden. Seine alten Taktiken fielen ihm wieder ein, {311 } und er war im Stillen sehr angetan davon, wie er das Boot direkt auf der Anliegelinie zur Luvmarke positioniert hatte. Er spürte, wie Quentins Vertrauen in ihn zurückkehrte; mit voller Fahrt sausten sie auf die Marke zu. Und darum, dass Quentin wieder an ihn glaubte, kämpfte Lou mindestens
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