Zeit deines Lebens
nassen Asphalt, aber er raste weiter, über die Clontarf-Küstenstraße hinauf nach Howth. Auf der anderen Seite der Bucht ragten die beiden rot-weiß gestreiften Schornsteine des Elektrizitätswerks mit ihren gut zweihundert Metern wie zwei warnende Finger in den Himmel. Inzwischen goss es in Strömen, und die Sicht war extrem schlecht. Aber Lou kannte den Weg in- und auswendig, er war ihn sein Leben lang gefahren, und jetzt hatte er nur einen Gedanken im Kopf: Die Entfernung, die ihn von seiner Familie trennte, so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Es war halb sieben und stockdunkel. Die meisten Menschen waren in der Kirche oder im Pub, packten Geschenke ein, stellten für den Weihnachtsmann ein Glas Milch, ein Stück Früchtekuchen und ein paar Karotten für seine Rentiere bereit. Lou hatte versprochen, rechtzeitig zum gemeinsamen Abendessen zu Hause zu sein – aber warum ging denn keiner ans Telefon? Er warf einen hastigen Blick auf seinen BlackBerry, um sich zu vergewissern, dass die Wahlwiederholung noch funktionierte, und ließ dabei notgedrungen die Straße einen Moment aus den Augen. Der Wagen scherte aus, schwenkte über die Mittellinie, und ein entgegenkommendes Auto hupte laut. Rasch steuerte Lou zurück auf seine Spur und passierte mit unverminderter Geschwindigkeit das Marine Hotel am Sutton Cross, in dem {338 } schon fröhlich gefeiert wurde. Als er sah, dass die Straße vor ihm jetzt völlig frei war, drückte er aufs Gaspedal, raste an der Sutton Church vorbei und ließ die Schule ebenso hinter sich wie die sicheren, freundlichen Wohnviertel, wo Kerzen in den Fenstern brannten, Weihnachtsbäume glitzerten und Plastikweihnachtsmänner sich an Balkonbrüstungen hochhangelten. Auf der anderen Seite der Bucht funkelten Weihnachtslichter an den zahllosen Kränen in der Dubliner Skyline. Lou bog von der Küste auf die steile Straße ein, die zu seinem Haus ganz oben auf dem Hügelkamm führte. Noch immer goss es in Strömen, wahre Sturzbäche behinderten die Sicht. Auf der Windschutzscheibe bildete sich Kondenswasser, und Lou beugte sich vor, um die beschlagene Scheibe mit dem Ärmel seines Kaschmirmantels trockenzuwischen. Dann stellte er am Armaturenbrett die Lüftung ein, die hoffentlich wieder für klare Sicht sorgen würde. Das Bimbimbim des Gurt-Alarms dröhnte in seinen Ohren, und da es im Auto wärmer wurde, beschlug die Scheibe immer mehr. Doch er raste weiter, sein Telefon wählte die immer gleiche Nummer, und der Wunsch, endlich bei seiner Familie zu sein, war stärker als alle anderen Gefühle, auf die er dringend hätte achten müssen. Zwölf Minuten nachdem er im Büro aufgebrochen war, erreichte er die Straße auf dem Hügelkamm.
Endlich piepte der BlackBerry und signalisierte, dass ein Anruf eingegangen war. Lou blickte hinunter, mitten in Ruths Gesicht – ihr Caller- ID -Foto. Ihr Lächeln, ihre braunen Augen, sanft und herzlich. Wenigstens war sie so weit in Sicherheit, dass sie ihn anrufen konnte. Erleichtert griff Lou nach dem BlackBerry.
Der Porsche 911 Carrera 4S besitzt einen einzigartigen Vierradantrieb, der für eine bessere Straßenhaftung sorgt {339 } als bei anderen Sportwagen. Fünf bis vierzig Prozent der Power verteilen sich dabei auf die Vorderräder, je nach dem Widerstand der Hinterräder. Wenn man in einer Kurve also so heftig beschleunigt, dass die Hinterräder durchdrehen, wird der Antrieb nach vorn verschoben, was das Auto in die richtige Richtung zieht. Kurz gesagt, bedeutet dieser Allradantrieb, dass der Carrera 4S auf eisglatter Fahrbahn wesentlich besser zurechtkommt als die meisten anderen Sportwagen.
Leider jedoch besaß Lou dieses Modell noch nicht. Es sollte im Januar kommen – in einer guten Woche.
Als er den Blick von der Straße abwendete, auf seinen BlackBerry hinunterschaute und dort das Gesicht seiner Frau entdeckte, ging er, überwältigt von einer unermesslichen Erleichterung, viel zu schnell in die Kurve. Reflexartig nahm er den Fuß vom Gaspedal, was das Gewicht des Wagens nach vorn warf, und griff heftig ins Lenkrad. Die Hinterräder blockierten, und der Wagen wurde auf die andere Straßenseite geschleudert, hin zum Steilabfall der Klippe.
Die Augenblicke, die folgten, waren absoluter Horror und völlige Verwirrung. Der Schock betäubte den Schmerz. Einmal, zweimal und noch ein drittes Mal überschlug sich der Wagen. Bei jeder Umdrehung wurde Lou – Kopf, Körper, Gliedmaßen, hilflos wie eine Puppe in der Waschmaschine – wild
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