Zeit deines Lebens
sah sie einen Menschen. Oder zumindest einen menschlichen Körper. Ihr wurde bange ums Herz. Vorsichtig richtete sie den Strahl der Taschenlampe auf die Gestalt und entdeckte Blut. Überall. Die Tür war eingedrückt, und Jessica konnte sie nicht öffnen, aber die Fensterscheibe auf der Fahrerseite war zerschmettert, so dass sie wenigstens die obere Hälfte des Körpers erreichen konnte. Sie gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben.
»Tony«, hauchte sie. »Tony.« Tränen traten ihr in die Augen. »Tony.« Sie streckte die Hände nach dem Mann aus, strich über sein Gesicht, flehte ihn an aufzuwachen. »Tony, ich bin’s«, sagte sie. »Ich bin da.«
Der Mann stöhnte, aber seine Augen blieben geschlossen.
»Ich hol dich hier raus«, flüsterte sie ihm ins Ohr und küsste ihn sanft auf die Stirn. »Ich bringe dich nach Hause.«
Langsam öffneten sich seine Augen, und Jessica zuckte zusammen. Die Augen waren blau. Nicht braun. Tony hatte doch braune Augen!
Er sah sie an. Sie sah ihn an. Auf einmal erwachte sie aus ihrem Alptraum.
»Können Sie mich hören?«, fragte sie, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme zitterte. Sie holte tief Atem und begann noch einmal. »Können Sie mich hören? Ich heiße Jessica. Verstehen Sie mich? Der Notarzt wird bald hier sein, okay? Wir helfen Ihnen.«
Der Mann stöhnte und schloss die Augen wieder.
»Sie sind unterwegs«, rief Raphie keuchend von oben und begann sich ebenfalls an den Abstieg zu machen.
»Raphie, es ist total glitschig hier unten. Bleib lieber, wo du bist, damit sie dich sehen können.«
»Gibt es Überlebende?«, fragte er, ohne auf ihre Warnung zu achten, und kletterte weiter, immer einen Fuß vor dem anderen.
»Ja«, rief sie zurück. »Geben Sie mir Ihre Hand«, sagte sie dann leise zu dem Verletzten, aber als sie mit der Taschenlampe auf seine Hand leuchtete, drehte sich ihr fast der Magen um. Es dauerte einen Moment, bis sie wieder atmen konnte, und sie hielt die Taschenlampe ein Stück höher. »Nehmen Sie meine Hand. Hier bin ich, spüren Sie es?« Sie drückte seine Hand.
Er stöhnte.
»Bleiben Sie bei mir, wir holen Sie hier raus.«
Er stöhnte wieder.
»Was? Ich kann nicht … keine Sorge, der Krankenwagen ist schon unterwegs.«
»Wer ist es?«, rief Raphie. »Jemand, den du kennst?«
»Nein«, rief sie zurück. Mehr erklärte sie nicht, denn {344 } sie wollte ihre Aufmerksamkeit nicht von dem verletzten Mann abwenden, wollte ihn nicht verlieren.
»Meine Frau«, hörte sie ihn flüstern, so leise, dass es vielleicht nur ein mühsames Atmen gewesen war. Aber sie brachte ihr Ohr dicht an seine Lippen, so dicht, dass sie seinen Mund an ihrem Ohrläppchen spürte – den Mund und das klebrige Blut.
»Sie haben eine Frau?«, fragte sie leise. »Sie werden sie wiedersehen, das verspreche ich Ihnen. Sie werden Ihre Frau wiedersehen. Wie heißen Sie?«
»Lou«, antwortete er, und dann begann er leise zu weinen. Aber sogar das Weinen war zu anstrengend, und er hörte wieder auf.
»Bitte bleiben Sie bei uns, Lou.« Jessica kämpfte mit den Tränen. Als sie merkte, dass er noch etwas sagen wollte, legte sie ihr Ohr wieder an seine Lippen.
»Eine Pille? Ich hab keine Pillen, Lou … «
Abrupt ließ er ihre Hand los und fing an, an seinem Mantel zu zupfen, klopfte mit der Hand auf seine Brust, und die Bewegung wirkte so angestrengt, als müsste er eine Zentnerlast hochheben. Vor Schmerz und Erschöpfung begann er zu wimmern. Behutsam griff Jessica in seine blutdurchtränkte Brusttasche und holte den Behälter heraus. Darin befand sich eine einzige Pille.
»Ist das Ihre Medizin, Lou?«, fragte sie unsicher. »Soll ich …?« Sie blickte zu Raphie empor, der immer noch mit dem steilen Abhang und dem unwegsamen Terrain kämpfte. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das geben darf … «
Aber da nahm Lou ihre Hand und drückte sie so kräftig, dass sie augenblicklich den Behälter öffnete und mit zitternden Händen die Tablette herausgleiten ließ. Vorsichtig öffnete sie mit den Fingern den blutigen Mund, legte Lou {345 } die Pille auf die Zunge und drückte seinen Mund wieder zu. Dann schaute sie sich rasch um, ob Raphie etwas mitbekommen hatte. Aber er hatte es erst den halben Abhang heruntergeschafft.
Als Jessica wieder zu Lou hinunterblickte, sah sie, dass er sie mit großen Augen anstarrte, voller Liebe und Dankbarkeit für das, was sie getan hatte, und ihr Herz füllte sich mit Hoffnung. Dann holte er noch einmal tief und mühevoll
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