Zeit deines Lebens
Scheibe. »Ja, aber … «
Lou nahm ihr die Kleidungsstücke ab. »Geben Sie her, ich mach das selbst«, sagte er.
Als Lou durch die Drehtür der Lobby trat, schlug ihm ein Schwall eisiger Luft entgegen. Einen Moment lang raubte ihm ein heftiger Windstoß den Atem, und der Regen fühlte sich an, als schleuderte ihm jemand Eiswürfel ins Gesicht. Gabe war voll und ganz auf die Schuhe konzentriert, die an ihm vorbeiwanderten – wahrscheinlich ein Versuch, sich {64 } vom Ansturm der Elemente abzulenken, die sich um ihn herum austobten. In Gedanken war er ganz woanders – an einem warmen Strand mit samtweichem Sand, und die Liffey vor ihm war das endlose Meer. Während er in dieser anderen Welt weilte, verspürte er eine Glückseligkeit, die man von einem Mann in seiner Lage nicht erwartet hätte.
Seinem Gesicht war davon allerdings nichts anzusehen. Der zufriedene Ausdruck von heute Morgen war wie weggeblasen, die blauen Augen, die so freundlich und aufgeschlossen in die Welt geblickt hatten, verfolgten Lous Schuhe unbeteiligt von der Drehtür bis zum Rand seiner Decke.
Dabei stellte Gabe sich vor, die Schuhe würden dem Mann gehören, der an dem Strand, wo Gabe sich wohlig in der Sonne aalte, in der Bar arbeitete. Dieser Mann kam soeben mit einem Cocktail auf ihn zu, das Tablett hoch in der Luft, als wären seine Arme Teil eines großen Kerzenleuchters. Zwar hatte Gabe den Drink schon vor ziemlich langer Zeit bestellt, aber er beschloss, sich nicht zu beklagen. Heute war es noch heißer als sonst, und im Sand drängte sich ein nach Kokos duftender Körper an den anderen, also würde er dem Barmann seine Langsamkeit verzeihen. Wenn es so schwül war, wurde jeder ein bisschen träge. Immer näher kamen die Füße in den Flip-Flops, sanken bei jedem Schritt ein wenig ein und schleuderten eine Sandfontäne in die Luft. Doch dann verwandelten sich die Sandkörner plötzlich in Regentropfen, und aus den Flip-Flops wurde ein Paar blankpolierter Schuhe. Gabe blickte auf, in der Hoffnung, einen bunten Fruchtcocktail mit Papierschirmchen zu entdecken. Stattdessen aber sah er Lou mit einem Klamottenhaufen über dem Arm, und es dauerte einen Moment, bis Gabe sich an die {65 } Kälte, den Verkehrslärm und die Hektik gewöhnt hatte, die ihn anstelle seines geruhsamen tropischen Paradieses überfluteten.
Auch Lous Äußeres hatte sich seit heute früh verändert. Seine Haare hatten ihren Cary-Grant-Schimmer verloren, die Haartolle ihren Schwung, und die Schultern seines Anzugs wirkten wie mit Schuppen bestäubt, da der Graupel, der vom Himmel auf den teuren Stoff niederfiel, nur langsam schmolz, um dunkle nasse Flecken zu hinterlassen. Lou wirkte ziemlich zerzaust, was für ihn ganz untypisch war. In dem Versuch, seine Ohren vor der Kälte zu schützen, hatte er seine sonst so entspannten Schultern krampfhaft nach oben gezogen, und er zitterte am ganzen Leib, denn er vermisste seinen Kaschmirmantel mindestens so sehr wie ein frisch geschorenes Schaf, das nackt auf knubbeligen Beinen auf der Weide steht, seine Wolle.
»Möchten Sie einen Job?«, fragte Lou siegessicher, aber seine Worte klangen leise und bescheiden, weil der Wind sie wegriss und die Frage ein Stück weiter weg bei einem Wildfremden ablieferte.
Gabe lächelte. »Meinen Sie das ernst?«
Verblüfft über die Reaktion, nickte Lou. Er hatte ja nicht erwartet, vor Freude umarmt zu werden, aber es kam ihm fast so vor, als hätte Gabe mit seinem Angebot
gerechnet
, und das befremdete ihn. Ein kleiner Freudentanz, ein bisschen Begeisterung, Staunen und Anerkennung, daran war er gewöhnt. Aber nichts dergleichen. Gabe schenkte ihm lediglich ein leises Lächeln und – nachdem er seine Decke abgeworfen und sich zu seiner vollen Größe aufgerichtet hatte – einen herzlichen und trotz der eisigen Kälte erstaunlich warmen Händedruck. Ohne dass ein weiteres Wort gesagt worden war, führte Gabe sich auf, als würde {66 } ihr Deal bereits besiegelt – dabei war er, soweit Lou wusste, nie ausgehandelt worden.
Da Lou und Gabe genau gleich groß waren, konnten sie einander direkt ins Gesicht sehen, und Gabe musterte ihn mit seinen ebenfalls blauen Augen unter seiner mönchsartig weit in die Stirn gezogenen Kapuze so durchdringend, dass Lou blinzeln musste und nach kurzer Zeit den Blick abwandte. In diesem Moment, in dem aus der guten Tat Realität wurde, überfiel Lou plötzlich der Zweifel, unerwartet und unwillkommen wie ein Hotelgast, der ohne Reservierung einfach
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