Zeit deines Lebens
Türen sich öffneten, war sofort klar, dass in der überfüllten Kabine bestenfalls noch Platz für einen weiteren Fahrgast war.
Gabe und Lou sahen einander an.
»Na, kann vielleicht mal einer von euch einsteigen?«, blökte einer der Fahrgäste schlecht gelaunt.
»Nur zu, gehen Sie schon«, sagte Gabe. »Ich muss ja auch noch das hier runterbringen«, fügte er hinzu und machte eine Kopfbewegung zu seinem Postwagen. »Ich nehme dann den nächsten.«
»Sicher?«
»Wo bleibt der Abschiedskuss?«, rief ein Witzbold, und der Rest der Leute lachte.
Hastig stieg Lou ein, konnte aber die Augen nicht von Gabes Gesicht abwenden. Dann schlossen sich die Türen, und der Lift fuhr nach unten.
Nach zwei Zwischenstopps erreichten sie das Erdgeschoss, und da Lou ganz hinten eingekeilt stand, wartete er, bis alle ausgestiegen waren. Er sah zu, wie die Angestellten zur Tür der Lobby hasteten, um – warm eingepackt und gerüstet gegen die Elemente – zum Lunch zu gehen.
Die Menge verlief sich, und Lous Herz setzte einen Schlag aus, als er am Sicherheitstresen Gabe entdeckte, der schon nach
ihm Ausschau hielt.
Langsam stieg Lou aus und ging auf ihn zu.
»Ich habe vergessen, Ihnen das hier auf den Schreibtisch zu legen«, erklärte Gabe und überreichte Lou einen dünnen Umschlag. »Das hatte sich unter der Post von jemand anderem versteckt.«
Lou nahm den Umschlag und sah ihn nicht mal an, bevor er ihn in die Manteltasche stopfte.
»Stimmt irgendwas nicht?«, fragte Gabe, aber seiner Stimme war keine Spur von Besorgtheit anzumerken.
»Nein. Alles in Ordnung.« Aber Lou ließ Gabe nicht aus den Augen. »Wie sind Sie denn so schnell hier runtergekommen?«
»Hier runter?«, fragte Gabe und deutete auf den Boden.
»Ja, hier runter«, bestätigte Lou sarkastisch. »Ins Erdgeschoss. Vom vierzehnten Stock. Wo ich Sie noch vor dreißig Sekunden gesehen habe.«
»Ach so«, meinte Gabe fröhlich und lächelte. »Aber ich glaube nicht, dass es dreißig Sekunden waren.«
»Und?«
»Und … « Er zögerte. »Vermutlich war ich schneller als Sie.«
Achselzuckend löste er dann mit dem Fuß die Bremse an seinem Wagen und machte sich bereit zum Weiterschieben. Im gleichen Augenblick begann Lous Handy zu klingeln, und sein BlackBerry signalisierte eine E-Mail.
»Sie müssen los«, stellte Gabe trocken fest und entfernte sich langsam. »Dinge treffen, Leute erledigen«, zitierte er Lous Scherz. Dann entblößte er seine leuchtend weißen Zähne in einem Lächeln, das bei Lou das gegenteilige Gefühl wie am Vormittag auslöste. Nichts war mehr übrig von der kuscheligen Behaglichkeit, die er da empfunden hatte. An ihrer Stelle durchfuhr ihn ein Wirbelsturm von Angst und Sorge, fegte mitten durch sein Herz und von dort in den Bauch. Herz und Bauch. Beides gleichzeitig.
8 Puddin’ and Pie
Als die Stadt Lou wieder ausspuckte und auf die Küstenstraße lotste, die ihn zu seinem Haus in Howth, County Dublin, brachte, war es schon halb zehn Uhr abends. Eine Häuserreihe säumte die Küste direkt am Meer, wie ein kunstvoller Rahmen um ein perfektes Aquarellbild. Windgepeitscht und von einem Leben in der salzigen Seeluft ausgewaschen, hatten sie sich der großen amerikanischen Tradition angeschlossen und ihre Dächer mit Glitzerlichtern und riesigen Weihnachtsmännern samt Rentierschlitten geschmückt. Die Vorhänge waren zurückgezogen, und durch die Scheiben sah man die Kerzen an den Weihnachtsbäumen schimmern, was Lou plötzlich ins Gedächtnis rief, wie er als kleiner Junge zum Zeitvertreib immer versucht hatte, im Vorbeifahren möglichst viele Bäume zu zählen. Zu seiner Rechten konnte er über die Bucht hinweg bis nach Dalkey und Killiney sehen, und jenseits des öligen Schwarz des Meers funkelten die Lichter von Dublin, wie Zitteraale in einem dunklen Brunnen.
In Howth zu wohnen war schon immer Lous Traum gewesen. Buchstäblich: Seine ersten Erinnerungen stammten von hier, ebenso wie der Wunsch dazuzugehören, und später das sich aus dem Dazugehören entwickelnde Gefühl von Geborgenheit. Der Fischer- und Yachthafen war ein {84 } beliebter Naherholungsort, direkt an der Nordseite von Howth Head, fünfzehn Kilometer von Dublin entfernt. Das Dorf war auch historisch nicht uninteressant: Klippenpfade führten an der Ortschaft und ihrer Klosterruine vorüber, ein Stück landeinwärts lag ein Schloss aus dem fünfzehnten Jahrhundert mit einem großen Rhododendrongarten, und eine Menge alter Leuchttürme säumte die Küste.
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