Zeit deines Lebens
»Keine Ahnung«, brummte er dann frustriert und versuchte, sich das Popcorn trotzdem zu nehmen.
»Nein, Drücken gilt nicht, Lou, du weißt die Antwort«, entgegnete sie dann mit fester Stimme und verwehrte ihm den Zugriff aufs Regal.
Selbst wenn Lou sicher war, die Antwort nicht zu kennen, brachte Ruth ihn dazu, so lange in den tiefsten Tiefen seines Gehirns – in Bereichen, von deren Existenz er bisher nichts gewusst hatte – zu forschen, bis er dort tatsächlich Informationen entdeckte, von denen er bislang nichts gewusst hatte. Manchmal machte sie solche Spielchen auch, wenn er mit ihr schlafen wollte.
»Beantworte zuerst mal Folgendes.«
Trotz seines Protests und seiner Annäherungsversuche blieb sie hart und versuchte ihn zu motivieren. »Komm schon, Lou, du weißt es doch.«
So lernte er weit mehr, als er selbst je geglaubt hätte.
Irgendwann fassten sie den Plan, nach der Uni zusammen nach Australien zu reisen und – ehe das richtige Arbeitsleben begann – ein Abenteuerjahr außerhalb von Irland zu verbringen. Sie waren fest entschlossen, ihren {108 } Freunden nachzureisen, die den Sprung schon vor ihnen gewagt hatten. Systematisch legten sie Geld für den Flug zurück und arbeiteten gemeinsam für ihren Traum – Lou als Barmann in einer Kneipe in Temple Bar, Ruth kellnerte. Aber dann fiel er durchs Examen, und wenn Ruth ihn nicht mit Menschen- und mit Engelszungen überredet und davon überzeugt hätte, dass er es beim zweiten Anlauf schaffen konnte, hätte er wahrscheinlich die Flinte ins Korn geworfen. Allerdings brachte er es nicht übers Herz, bei der Examenszeremonie, bei der Ruth, die die Prüfung mit fliegenden Fahnen bestanden hatte, eine Auszeichnung verliehen wurde, dabei zu sein, sondern tauchte erst zum inoffiziellen Teil auf, trank zu viel und vermieste ihr den Abend – darin war er schon damals recht gut gewesen.
Während er das letzte Studienjahr wiederholte, machte Ruth ihren Master in Wirtschaftswissenschaften, mehr oder weniger als Zeitvertreib. Sie rieb es ihm nie unter die Nase, gab ihm nie das Gefühl, dass er ein Versager war, stellte sich und ihre eigenen Erfolge nie in den Vordergrund. Sie tat, was sie konnte, damit er keinen Grund hatte, sich minderwertig zu fühlen. Sie blieb ihm treu, kümmerte sich um ihn, war weiterhin Herz und Seele jeder Party – und scheffelte nebenbei ihre Einsen.
Hatte er sie damals zu hassen begonnen? Vor so langer Zeit schon? Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er sich schon immer
wie ein Versager vorgekommen war. Oder versuchte er sie mit seinem Verhalten zu bestrafen? Vielleicht steckte auch gar nichts
kompliziert Psychologisches dahinter, sondern er war schlicht zu schwach und zu egoistisch. Jedenfalls konnte er nicht nein
sagen, wenn eine attraktive Frau auch nur in seine Richtung schaute. Und schon gar nicht, wenn sie nach Handtasche, Mantel
und {109 } dann nach seiner Hand griff. Wenn ihm so etwas passierte, verlor er jedes Gefühl für sich selbst. Sicher, er konnte unterscheiden, was richtig und was falsch war, aber in solchen Situationen kümmerte es ihn einfach nicht. Da fühlte er sich unbesiegbar, es gab für ihn keine Konsequenzen und keine üblen Nachwirkungen.
Vor sechs Monaten hatte Ruth ihn im Bett mit der Kinderfrau erwischt. Zwar war er nicht oft mit ihr zusammen gewesen, aber er wusste, wenn man davon ausging, dass es für Affären so etwas wie unterschiedliche Fairness-Niveaus gab, dann war Sex mit der Kinderfrau ziemlich unterste Schublade. Seither hatte es keine Seitensprünge mehr gegeben, mal abgesehen von der Knutscherei mit Alison, die eindeutig ein Fehler gewesen war. Wenn man davon ausging, dass es auch Maßstäbe für akzeptable Entschuldigungen gab – und die gab es in Lous Weltbild durchaus –, dann wäre der Vorfall eher leicht entschuldbar. Er war betrunken gewesen, Alison war eine attraktive junge Frau, und er konnte die Knutscherei zwar nicht mehr ungeschehen machen, aber er bereute sie zutiefst. Seiner Meinung nach zählte der Vorfall demzufolge so gut wie gar nicht.
»Lou«, unterbrach Ruths ungehaltene Stimme seine Grübeleien, und er fuhr erschrocken zusammen.
Er sah sie an. »Guten Morgen«, lächelte er. »Du kommst nie drauf, woran ich grade gedacht … «
»Hörst du das denn nicht?«, unterbrach sie ihn. »Du bist doch hellwach und starrst an die Decke.«
»Hm?« Er drehte sich nach links und sah, wie der Wecker auf sechs Uhr sprang. »Oh, tut mir leid«, sagte er, beugte sich
Weitere Kostenlose Bücher