Zeit deines Lebens
geöffnet.
»Aber das ist nicht das Traurige an der Geschichte. Das Traurigste war, dass er seinen Nachlass nicht rechtzeitig geklärt hatte. Natürlich war das nicht seine Schuld, er war ja noch jung und hatte nicht vor, sich schon so früh zu verabschieden, aber das zeigt einfach, dass man nie weiß, was die Zukunft bringt.«
Die Tachonadel näherte sich der Hundertkilometermarke, obwohl sie sich in einer Zone befanden, in der man höchstens fünfzig fahren durfte. Lou packte den Türgriff und hielt sich fest. Gleichzeitig richtete er sich aus seiner Fläzhaltung auf und rutschte mit dem Hintern auf dem Sitz ganz nach hinten. Jetzt saß er kerzengerade, beobachtete {154 } den Tacho und sah die verschwommenen Lichter der Stadt auf der anderen Seite der Bucht an sich vorbeisausen.
Aber als er gerade nach dem Sicherheitsgurt greifen wollte, nahm Gabe – genauso schnell, wie er gerade noch beschleunigt hatte – abrupt den Fuß vom Gaspedal, warf einen Blick in den Seitenspiegel, blinkte und lenkte ganz ruhig nach links. Dann schaute er Lou an, dessen Gesicht eine interessante grünliche Färbung angenommen hatte, und lächelte.
»Trautes Heim, Glück allein, Lou.«
Erst im Lauf der nächsten Tage, als der Katernebel sich allmählich wieder hob, fiel Lou auf, dass er sich nicht erinnern konnte, Gabe in jener Nacht auch nur ein einziges Mal Anweisungen gegeben zu haben, wie er zu seinem Haus kam.
»Mum, Dad, Marcia, Quentin, Alexandra!«, verkündete Lou dröhnend, sobald sich die Tür öffnete und er vor seiner ziemlich erschrocken dreinblickenden Mutter stand. »Ich bin wieder zu Hause!«, rief er, umarmte seine Mutter und gab ihr einen dicken Schmatz auf die Wange. »Tut mir leid, dass ich das Essen verpasst habe, wir hatten so viel zu tun im Büro. Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit.«
Allerdings konnte nicht einmal Lou diese Ausrede mit ernstem Gesicht vorbringen, und so stand er schließlich mit zuckenden Schultern im Esszimmer und fing keuchend, fast lautlos zu lachen an. Seine Familie beobachtete ihn erschrocken und nicht sonderlich begeistert. Ruth war erstarrt und musterte ihren Ehemann mit einer Mischung aus Wut, Kränkung und Verlegenheit. Irgendwo in ihr regte sich auch Eifersucht. Den ganzen Tag über hatte sie {155 } mit Lucys überbordender Aufregung zu kämpfen gehabt, die schließlich in einem tränenreichen Zusammenbruch gipfelte, bei dem sie sich weigerte, auf die Bühne zu gehen, solange ihr Vater nicht da war. Nachdem sie von der Aufführung wieder zu Hause angekommen waren, hatte Ruth die Kinder ins Bett gebracht und war dann den ganzen restlichen Abend herumgerannt, um das Essen und die Zimmer für die Gäste vorzubereiten. Von der Hitze in der Küche war ihr Gesicht knallrot, und ihre Finger brannten noch von den heißen Schüsseln und Töpfen, die sie hin und her geschleppt hatte. Sie war gleichzeitig aufgekratzt und von den Anstrengungen des Tages völlig ausgepowert. Nach Kräften war sie auf die Bedürfnisse beider Kinder eingegangen, wie es sich für Eltern gehört. Mit Pud war sie auf allen vieren auf dem Fußboden herumgekrochen, und für Lucy war sie die Trösterin gewesen, hatte ihr die Tränen der Enttäuschung abgewischt und ihr gut zugeredet, als klarwurde, dass ihr Vater – Ruths Beteuerungen zum Trotz – nicht zu ihrem Auftritt kommen würde.
Nun sah Ruth ihren Mann an, der schwankend, mit blutunterlaufenen Augen und geröteten Wangen im Türrahmen stand, und sie wünschte sich, sie wäre an seiner Stelle, könnte alle Vor- und Rücksicht einfach in den Wind schlagen und sich vor ihren Gästen wie ein Idiot aufführen. Aber das würde Lou nicht aushalten – und sie würde es auch nie tun. Genau darin bestand ja der Unterschied zwischen ihnen. Er machte sich ganz unbekümmert zum Affen, während sie sich frustriert fragte, wie in aller Welt sie in diese Rolle geraten war.
»Dad!«, fuhr Lou unterdessen lautstark fort. »Ich hab dich ja ewig nicht gesehen! Kaum zu glauben, dass schon wieder so viel Zeit vergangen ist, was?« Lächelnd und mit {156 } ausgestreckter Hand ging er auf seinen Vater zu, zog mit einem scheußlichen Kratzgeräusch einen Stuhl heran und nahm so dicht neben dem alten Mann Platz, dass sich ihre Ellbogen fast berührten. »Erzähl doch mal – was hast du gemacht? Oh, und ich hätte auch gern einen Schluck von dem Rotwein hier. Mein Lieblingswein, Schatz, toll gemacht.« Er zwinkerte Ruth zu und vergoss einen Großteil des Weins auf die weiße
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