Zeit deines Lebens
Leinentischdecke, als er sich mit unsteter Hand ein unbenutztes Glas vollschenkte.
»Komm, ich helfe dir, Junge«, sagte sein Vater leise und wollte ihm die Flasche abnehmen.
»Das geht schon, Dad«, wehrte Lou ab und spritzte den Wein seinem Vater aufs Hemd.
»Ach Aloysius«, rief seine Mutter, und Lou verdrehte genervt die Augen.
»Ist schon in Ordnung, Liebes – kein Problem«, beschwichtigte sein Vater, offenbar fest entschlossen zu verhindern, dass die Situation eskalierte.
Aber Lous Mutter ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Das ist dein gutes Hemd!«, fuhr sie fort, griff nach ihrer Serviette, tunkte sie in ihr Wasserglas und fing an, die weißen Hemdsärmel ihres Mannes abzutupfen.
»Mum«, rief Lou, lachte und sah sich am Tisch um. »Ich hab ihn nicht umgebracht, sondern bloß ein bisschen Wein verkleckert.«
Seine Mutter warf ihm einen zornigen Blick zu, sah dann weg und widmete sich wieder den Hemdsärmeln.
»Vielleicht hilft ja das hier.« Lou nahm den Salzstreuer und kippte seinem Vater eine großzügige Menge über den Arm.
»Lou!«, brüllte Quentin dazwischen. »Hör auf damit!«
Lou hielt inne und grinste albern zu Alexandra hinüber.
»Oh, hallo, Quentin«, rief er dann und nickte seinem großen Bruder zu. »Ich hab dich gar nicht bemerkt. Wie geht’s dem Boot? Neue Segel? Sonst neue Ausrüstung? Irgendwelche Regatten gewonnen in letzter Zeit?«
Quentin räusperte sich und versuchte sich zu entspannen. »Wir sind sogar beim Finale in zwei Wo–«
»Alexandra!«, fiel Lou ihm abrupt ins Wort. »Wie kommt es, dass ich die entzückende Alexandra noch nicht geküsst habe?« Er stand auf und ging zu seiner Schwägerin hinüber, wobei er sämtliche Stuhllehnen umlief. »Wie geht es denn unserer wunderschönen Alexandra heute Abend? Du siehst wie immer hinreißend aus.« Mit unsicheren Bewegungen umarmte er sie und küsste sie auf den Nacken.
»Hi, Lou«, lächelte sie. »Schönen Abend gehabt?«
»Ach, weißt du, Arbeit, Arbeit – jede Menge Papierkram zu erledigen.« Er warf den Kopf zurück und lachte wieder, laut und abgehackt wie eine Maschinengewehrsalve. »Ach du gute Güte! Aber gibt es eigentlich irgendein Problem? Ihr macht ja ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter. Sieht aus, als könntet ihr ein kleines Feuerchen unterm Arsch gebrauchen, na los!«, rief er in viel zu aggressivem Ton und klatschte in die Hände, was wohl aufmunternd wirken sollte. »Seid nicht so laaang-weilig!« Er drehte sich um und sah seine Schwester an. »Marcia«, sagte er und seufzte tief. »Marcia«, wiederholte er. »Hi«, fügte er noch hinzu, dann ging er zu seinem Stuhl zurück, leise vor sich hin lächelnd wie ein Kind. Ein langes Schweigen folgte.
Gabe hatte Lous Auftritt etwas verlegen von der Esszimmertür aus beobachtet.
»Wen hast du denn da mitgebracht, Lou?«, brach Lous Bruder Quentin schließlich das Schweigen und ging mit ausgestreckter Hand auf Gabe zu. »Tut mir leid, man hat {158 } uns noch gar nicht bekannt gemacht. Ich bin Lous Bruder Quentin, und das ist meine Frau Alexandra.«
Lou stieß einen Pfiff aus und lachte.
»Hallo, ich bin Gabe.« Nachdem er Quentins Hand geschüttelt hatte, trat Gabe endlich ganz ins Esszimmer, ging zum Tisch und begrüßte die Familie.
»Lou«, sagte Ruth leise, »vielleicht solltest du lieber Wasser trinken. Oder einen Kaffee – ich wollte grade noch welchen machen.«
Lou stieß einen lauten Seufzer aus. »Bin ich dir peinlich, Ruth?«, knurrte er. »Du hast mir doch gesagt, ich soll heimkommen. Also, hier bin ich!«
Wieder breitete sich ein unbehagliches Schweigen am Tisch aus, und alle schauten verlegen vor sich hin. Nur Lous Vater musterte seinen Sohn ärgerlich. Sein Kopf war hochrot, und seine Lippen zitterten, als wollte er etwas sagen. Aber er blieb stumm.
Gabe ging weiter um den Tisch herum.
»Hallo, Ruth. Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen.«
Sie blickte kaum auf, sondern nahm nur kraftlos seine Hand.
»Hi«, antwortete sie leise. »Bitte entschuldigen Sie, ich räume nur eben schnell ab.« Damit stand sie auf und begann, die Platten mit den Käseresten und die gebrauchten Kaffeetassen in die Küche zu tragen.
»Ich helfe Ihnen«, bot Gabe sich an.
»Nein, nein, bitte setzen Sie sich doch.« Schwerbeladen eilte sie in die Küche.
Aber Gabe ging ihr einfach hinterher. Als er in die Küche trat, lehnte sie, den Rücken zur Tür, an der Theke, wo sie das Geschirr abgestellt hatte. Sie hatte den Kopf gesenkt {159 }
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