Zeit deines Lebens
und die Schultern hochgezogen – das Inbild einer Frau, die seelisch und körperlich am Ende ist. Geräuschvoll lud Gabe die Teller neben der Spüle ab, damit sie merkte, dass sie nicht alleine war.
Sofort fuhr sie auf und nahm sich sichtlich zusammen.
»Gabe«, sagte sie, wandte sich zu ihm um und lächelte angestrengt. »Ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen sich nicht bemühen.«
»Ich wollte aber gerne helfen«, erwiderte er sanft. »Es tut mir leid wegen Lou. Übrigens war ich nicht mit ihm auf Kneipentour.«
»Nein?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn. Anscheinend war es ihr peinlich, dass sie es nicht gewusst hatte.
»Nein. Ich arbeite bei ihm im Büro und war noch da, als er zurückgekommen ist von … na ja, von seinem Treffen.«
»Als er ins Büro zurückgekommen ist? Warum ist er denn … « Verwirrt sah sie ihn an, dann dämmerte ihr, was los war, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht. »Oh, verstehe. Er hat versucht, selbst zu fahren.«
Es war keine Frage, sondern ein laut ausgesprochener Gedanke, deshalb antwortete Gabe nicht. Aber Ruth war ihm gegenüber weniger verschlossen geworden.
»Gut. Vielen Dank, dass Sie ihn heil nach Hause gebracht haben, Gabe. Tut mir leid, wenn ich unhöflich zu Ihnen war, aber ich bin einfach, wissen Sie … « Gefühle überwältigten ihre Stimme, sie brach ab und machte sich daran, die Essensreste von den Tellern in den Mülleimer zu befördern.
»Ich weiß. Sie müssen es mir nicht erklären.«
Aus dem Esszimmer hörten sie, wie Lou ein lautes {160 } »Wow!« ausstieß, dann zersprang klirrend ein Glas, was er mit schallendem Gelächter quittierte.
Ruth hielt inne und schloss seufzend die Augen.
»Lou ist ein guter Mann, wissen Sie«, sagte Gabe leise.
»Danke, Gabe. Ob Sie es glauben oder nicht, aber das ist genau das, was ich momentan gern hören möchte. Allerdings hatte ich gehofft, dass es nicht ausgerechnet einer seiner Arbeitskumpel ist, der es mir sagt, sondern vielleicht seine Mutter« – sie sah ihn traurig an – »oder sein Vater. Oder seine Tochter. Ich weiß ja, dass Lou bei der Arbeit echt toll ist.« Wütend begann sie wieder die Teller abzukratzen.
»Ich bin keiner von Lous Kumpeln, glauben Sie mir. Lou kann mich nicht ausstehen.«
Sie sah ihn verwundert an.
»Er hat mir gestern einen Job angeboten. Früher hab ich jeden Morgen vor dem Bürogebäude gesessen, und gestern ist Lou aus heiterem Himmel vor mir stehen geblieben, hat mir einen Kaffee in die Hand gedrückt und mich gefragt, ob ich bei ihm arbeiten möchte.«
»Stimmt, gestern Abend hat er so etwas erwähnt«, sagte Ruth nachdenklich und forschte in ihrem Gedächtnis nach einer deutlicheren Erinnerung. »Das hat Lou echt getan?«
»Überrascht Sie das?«
»Nein, eigentlich nicht. Na ja, doch, irgendwie schon. Ich meine … was für einen Job hat er Ihnen denn gegeben?«
»Ich arbeite in der Poststelle.«
»Was könnte er davon haben?«, überlegte sie und runzelte die Stirn.
Gabe lachte. »Meinen Sie, er hat es zu seinem eigenen Vorteil getan?«
»Oh, das ist schrecklich von mir, so was zu vermuten.« Sie biss sich auf die Lippen, um ihr Lächeln zu verbergen. »Ich hab es auch nicht so gemeint. Ich weiß, dass Lou ein guter Mann ist, aber in letzter Zeit ist er sehr … sehr beschäftigt. Oder eher
abgelenkt
. Es spricht ja nichts dagegen, beschäftigt zu sein – solange man in Gedanken nicht ständig anderswo ist.« Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Aber Lou ist überhaupt nicht mehr richtig da. Immer ist er gleichzeitig auch woanders. Sein Körper ist bei uns, aber seine Gedanken sind weit weg. In letzter Zeit hat alles nur noch mit seiner Arbeit zu tun – wie er sie am besten organisiert, wie er es am schnellsten von einem Meeting zum nächsten schafft und so weiter und so fort. Als Sie vorhin sagten, er hat Ihnen einen Job angeboten, dachte ich deshalb sofort … Gott, hör sich das bloß mal einer an.« Sie atmete tief durch. »Sie haben offensichtlich die gute Seite in Lou zum Vorschein gebracht, Gabe.«
»Er ist ein guter Mann«, wiederholte Gabe.
Ruth antwortete nicht, aber es war fast, als hätte Gabe ihre Gedanken gelesen, denn er sagte: »Aber Sie möchten, dass er noch besser wird, richtig?«
Erstaunt sah sie ihn an.
»Keine Sorge.« Er legte seine Hand auf ihre, und sie fühlte sich sofort getröstet. »Das wird er auch.«
Erst als Ruth ihrer Schwester am nächsten Tag von dem Gespräch erzählte und diese die
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