Zeit deines Lebens
geweckt?« Er ging auf Ruth zu.
»Lou, warum redest du so mit mir?«, fragte sie ihn stirnrunzelnd und wandte sich dann wieder ihrem Sohn zu. »Komm schon, Pud, noch ein paar Löffelchen, Liebling.«
»Weil du gezielt versuchst, mich feuern zu lassen, deshalb! Stimmt’s? Also, warum hast du mich nicht geweckt?«
»Na ja, ich wollte dich wecken, aber Gabe hat gesagt, ich soll dich lieber schlafen lassen. Er meinte, ein bisschen Ruhe würde dir guttun, und ich könnte ruhig bis zehn mit dem Wecken warten. Und ich war der gleichen Ansicht«, antwortete sie sachlich, ohne weiter darauf einzugehen, dass er sie in Gegenwart seiner Eltern so unfair angegriffen hatte.
»Gabe?« Verständnislos glotzte er sie an. » GABE ?«, wiederholte er dann noch lauter.
»Lou«, rief seine Mutter entsetzt. »Bitte schrei hier nicht so rum!«
»Gabe, der Postmann? Der verfluchte Postmann?«, fuhr er fort, ohne seine Mutter zu beachten. »Du hast auf ihn gehört? Er ist ein Schwachkopf!«
»Lou!«, ging seine Mutter erneut dazwischen. »Fred, tu doch was«, fügte sie flehend hinzu und stieß ihren Mann in die Rippen.
»Dieser Schwachkopf hat dich gestern Abend immerhin heil nach Hause gebracht«, entgegnete Ruth und gab sich alle Mühe, ruhig zu bleiben. »Er hätte dich auch deinem Schicksal überlassen können. Dann wärst du jetzt vielleicht tot.«
Als wäre ihm gerade erst wieder eingefallen, dass Gabe ihn heimgebracht hatte, rannte Lou nach draußen auf die Auffahrt. Dort umkreiste er das Auto, hüpfte von einem Fuß auf den anderen, und seine Sorge um den Porsche war so groß, dass er nicht einmal merkte, wie sich die spitzen Kiesel in seine Fußsohlen bohrten. Er kontrollierte den Wagen von allen Seiten, fuhr mit den Fingern über den Lack, um sich zu vergewissern, dass nirgends Kratzer oder Dellen waren. Als er nichts fand, wurde er zwar etwas ruhiger, aber er konnte noch immer nicht verstehen, warum Ruth Gabes Rat gefolgt war. Warum maß sie seiner Meinung so viel Wert bei? Was war los in der Welt, dass alle diesem Gabe aus der Hand fraßen?
Er ging wieder hinein, wo seine Mutter und sein Vater ihm so böse Blicke zuwarfen, dass ihm ausnahmsweise nichts zu sagen einfiel. Schnell wandte er sich wieder an Ruth, die immer noch Pud fütterte.
»Ruthy«, begann er, räusperte sich und machte sich bereit für eine Entschuldigung im Lou-Stil, eine Entschuldigung, die niemals die Worte »es tut mir leid« enthielt. »Hör mal, Folgendes: Dieser Gabe hat es auf meinen Job {167 } abgesehen. Das konntest du nicht wissen, klar, aber es ist so. Deshalb ist er heute Morgen auch schön früh zur Arbeit gegangen … «
»Er hat das Haus vor grade mal fünf Minuten verlassen«, fiel sie ihm ins Wort, ohne ihn anzusehen. »Er hat in einem der Gästezimmer übernachtet, weil ich nicht sicher war, ob er überhaupt eine Bleibe hat. Er ist als Erster aufgestanden, hat für uns alle Frühstück gemacht, und dann hab ich ein Taxi für ihn gerufen und auch bezahlt, damit er zur Arbeit fahren kann. Vor ungefähr fünf Minuten ist er, wie gesagt, aufgebrochen, also kommt er auch zu spät. Du kannst ihm mitsamt deinen Vorwürfen und Verdächtigungen gerne nachlaufen und das Arschloch spielen.«
»Ruthy, ich … «
»Du hast recht, Lou, dein Benehmen heute früh ist ein Beweis dafür, dass du alles voll unter Kontrolle hast und nicht das kleinste bisschen gestresst bist«, sagte sie sarkastisch. »Wie bin ich bloß auf die Idee gekommen, dass du mal eine Stunde Schlaf extra brauchst. So, Pud«, fügte sie hinzu, während sie das Baby aus dem Hochstuhl hob und ihm einen Kuss mitten auf das verschmierte Gesichtchen gab, »dann wollen wir dich jetzt mal baden.« Sie lächelte den Kleinen an.
Pud klatschte in die Hände, schmiegte sich wohlig an sie und genoss ihre Liebkosungen. Einen Moment lang wurde Lou beim Anblick seines kleinen Sohns, der so breit und strahlend lächelte, ganz warm ums Herz. Er machte sich schon bereit, Pud in die Arme zu nehmen, aber Ruth ging einfach an ihm vorbei, den vergnügt lachenden Pud fest an sich gedrückt, ohne Lou auch nur anzusehen. Die Zurückweisung war wie ein Schlag in den Magen. Ungefähr fünf Sekunden lang. Doch dann wurde ihm klar, dass diese fünf {168 } Sekunden von der Zeit abgingen, die er brauchte, um zur Arbeit zu kommen. Und er rannte los.
So schnell hatte er den Weg in die Stadt noch nie geschafft, denn da Sergeant O'Reilly nicht unterwegs war, konnte er rücksichtslos aufs Gaspedal drücken.
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