Zeit deines Lebens
mehr Zeit im Büro, als {292 } menschenmöglich ist? Wann reicht es endlich, wann hast du genug? Wie hoch willst du denn noch hinaus, Lou? Letzte Woche hast du gesagt, man kann nur aus dem Job gefeuert werden, nicht aus der Familie. Aber ich denke, allmählich müsste selbst dir klar sein, dass auch eine Familie nicht alles mitmacht.«
»Ruth.« Er schloss die Augen und wäre bereit gewesen, auf der Stelle vom Balkon zu springen, wenn sie nicht bei ihm bleiben wollte. »Bitte verlass mich nicht, Ruth.«
»Ich meine nicht mich«, entgegnete sie. »Ich meine die da drin.«
Er drehte sich um und sah seine Familie, die sich gerade den anderen Gästen angeschlossen hatte, um gemeinsam mit ihnen eine Polonaise zu tanzen, wobei selbst die Ältesten alle paar Schritte flott das Bein in die Höhe warfen. »Aber ich begleite Quentin doch morgen zur Regatta«, beteuerte er und sah sie hoffnungsvoll an.
»Ich dachte, Gabe wollte das machen«, entgegnete Ruth stattdessen etwas verwirrt. »Er hat es ihm vorhin angeboten, ich stand dabei. Und Quentin hat ja gesagt.«
Jetzt begann Lou vor Wut zu kochen. »Nein, das mache ich und kein anderer«, verkündete er wild entschlossen.
»Ach wirklich? Bevor du mit mir und den Kindern zum Schlittschuhlaufen gehst oder danach?«, fragte sie, machte auf dem Absatz kehrt und ließ ihn allein auf dem Balkon stehen und sich verfluchen, dass er sein Versprechen vergessen hatte.
Musik von drinnen drang nach draußen, und ein Schwall kalte Luft strömte in den Saal. Dann schloss die Tür sich wieder, aber Lou spürte, dass jemand hinter ihm stand. War Ruth doch nicht hineingegangen? Hatte sie ihn am Ende doch nicht stehenlassen?
»Was ich dir angetan habe, tut mir schrecklich leid, und ich möchte alles wiedergutmachen«, sagte er erschöpft. »Ich bin so müde. Aber ich möchte das, was ich falsch gemacht habe, in Ordnung bringen. Ich möchte allen sagen, dass es mir leidtut, und ich würde alles tun, damit sie das wissen und mir glauben. Bitte hilf mir, das hinzukriegen.«
Hätte Lou sich in diesem Augenblick umgedreht, hätte er gesehen, dass seine Frau tatsächlich nicht mehr da war – sie hatte sich in eine stille Ecke zurückgezogen und weinte, bitter enttäuscht von ihrem Mann, der sie doch noch vor wenigen Stunden in ihrem Schlafzimmer überzeugt hatte, dass er sich geändert hatte. Nein, es war Gabe, der auf den Balkon gekommen war, und es war Gabe, der nun Lous Geständnis hörte.
Gabe wusste, dass Lou Suffern am Ende seiner Kraft war. Jahrelang hatte er sich durch Minuten, Stunden und Tage gehetzt, so schnell, dass er irgendwann aufgehört hatte, das Leben zu spüren. Die Blicke, Gesten und Gefühle anderer Menschen hatten ihre Wichtigkeit für ihn verloren, er konnte sie nicht einmal mehr richtig sehen. Anfangs hatte Leidenschaft ihn vorangetrieben, doch in der Anstrengung, vorwärtszukommen und das zu erreichen, was er sich wünschte, war er über sein eigentliches Ziel weit hinausgeschossen. Immer war er in Eile gewesen, hatte sich nie eine Atempause gegönnt und war so in einen Rhythmus verfallen, dem sein Herz kaum nachkam.
Als Lou die kalte Dezemberluft einsog und sein Gesicht zum Himmel hob, um die eisigen Tröpfchen zu fühlen, die sanft auf seiner Haut landeten, wusste er, dass seine Seele dabei war, ihn zu sich zu holen.
Er konnte es spüren.
25 Der schönste Tag
Um neun Uhr früh am Samstag – dem Tag nach der Geburtstagsfeier – saß Lou Suffern mit geschlossenen Augen draußen in seinem Garten und hielt sein Gesicht der Morgensonne entgegen. Er war über den Zaun geklettert, der ihren Achttausend-Quadratmeter-Landschaftsgarten mit seinen Kieselpfaden, Beeten und riesigen Blumenkübeln von dem rauen, verwilderten, von Menschenhand unberührten Terrain trennte. Überall verstreut, als hätte jemand in Dalkey eine Spritzpistole genommen und aufs Geratewohl die Nordseite der Landzunge mit gelber Farbe unter Beschuss genommen, wuchsen Ginsterbüsche. Lous und Ruths Haus stand ganz oben auf dem Hügelkamm, und von ihrem Garten aus hatte man einen Panoramablick auf das darunterliegende Dorf Howth, den Hafen und die Bucht bis hinaus zur Insel Ireland’s Eye. Oft sah man sogar den hundertachtunddreißig Kilometer entfernten Mount Snowdon im walisischen Snowdonia National Park, aber an diesem klaren Tag hatte Lou Suffern ganz andere Dinge im Sinn.
Er saß auf einem Stein und atmete tief die frische Luft ein. Seine Nase war taub vor Kälte und lief, seine Wangen waren
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