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Zeit deines Lebens

Titel: Zeit deines Lebens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecelia Ahern
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steifgefroren, seine Ohren schmerzten im eisigen Wind, und seine Finger hatten bereits eine rötlich-blaue Färbung angenommen, als würde an den Knöcheln die Blutzufuhr {295 } abgeschnürt. Kein gutes Wetter für diese lebenswichtigen Körperteile – aber ideal fürs Segeln. Anders als die Pflanzen in den gewissenhaft gepflegten Gärten der Nachbarschaft waren die wilden Ginsterbüsche sich selbst überlassen und konnten nach Lust und Laune wachsen – wie es manchmal bei zweitgeborenen Kindern der Fall ist, denen man mehr Raum gibt und weniger Regeln aufzwingt als den wohlbehüteten Erstlingen. So war der Ginster über den Hang zigeunert und hatte sich überall auf der Landzunge etabliert. Das Gelände war hügelig und uneben, hob und senkte sich abrupt, entschuldigte sich für nichts und bot Wanderern wenig Hilfe an. Es war wie der Schüler in der hintersten Bank, still, aber stets voller verrückter Ideen, und so beobachtete es ganz entspannt die Reaktionen auf die Fallstricke, die es ausgelegt hatte. Obgleich die umliegenden Hügel diese ungestüme Seite besaßen und in Howth das für ein Fischerdorf typische geschäftige Leben herrschte, strahlte das Städtchen dennoch Ruhe und Frieden aus. Mit seinen Leuchttürmen, die die Seefahrer sicher zur Küste geleiteten, und den Klippen, die wie eine undurchdringliche Phalanx von Spartanern mit geschwellter Brust und Waschbrettbauch eine Verteidigungslinie gegen die Elemente bildeten, besaß es eine Aura von Bedachtsamkeit und fast großväterlicher Würde. Der Pier vermittelte zwischen Land und Meer und gab den Menschen die Möglichkeit, sich, ohne den Boden unter den Füßen zu verlieren, ein Stück hinaus auf den Ozean zu begeben. Einsam ragte der Martello Tower auf, wie ein alternder Soldat, der seinen Posten um keinen Preis verlassen möchte, obwohl längst Frieden eingekehrt ist. Trotz der Windböen, die unablässig über die Landzunge herfielen, war Howth ein standhaftes, stabiles Fleckchen Erde.
    Doch Lou war nicht allein, wie er so auf dem Stein kauerte {296 } und über sein Leben nachdachte. Er saß neben sich selbst, allerdings in einer ganz anderen Aufmachung: Ein Lou trug Segelkleidung für die bevorstehende Regatta mit seinem Bruder, der andere war zum Schlittschuhlaufen mit der Familie angezogen. Aber beide starrten hinaus aufs Meer, betrachteten das Schimmern der Sonne am Horizont. Unwillkürlich musste er an ein gigantisches amerikanisches Zehn-Cent-Stück denken, das jemand als Glücksbringer ins Wasser geworfen hatte und das jetzt unter den Wellen glitzerte. Eine ganze Weile saßen die zwei Lous schon so da, in ungezwungenem Schweigen, völlig entspannt in der Gesellschaft des anderen.
    Der Lou auf dem moosigen Gras blickte zu dem Lou auf dem Stein hoch und lächelte. »Weißt du, wie glücklich ich in diesem Augenblick bin? Ich stehe sozusagen neben mir – na ja, genau genommen sitze ich natürlich«, schmunzelte er.
    Lou auf dem Stein verbiss sich ein Grinsen. »Je mehr Witze ich von mir höre, desto klarer wird mir, dass ich nicht komisch bin.«
    »Ja, so geht es mir auch.« Lou neben ihm pflückte einen langen Grashalm und schlang ihn sich um seine violettgefrorenen Finger. »Aber ich merke auch, was für ein attraktiver Mistkerl ich bin.«
    Jetzt lachten beide.
    »Aber du unterbrichst die Leute oft«, stellte Lou auf dem Stein fest, denn er erinnerte sich, dass sein anderes Selbst gerne überflüssigerweise das Gespräch an sich riss.
    »Ist mir auch schon aufgefallen. Ich sollte wirklich –«
    »Und du hörst nicht richtig zu«, fügte er gedankenversunken hinzu. »Und deine Geschichten sind immer zu lang. Die meisten Leute sind längst nicht so an deinem Geschwafel {297 } interessiert, wie du dir einbildest«, bekannte er. »Du fragst andere auch nie, was sie machen. Das solltest du aber, unbedingt.«
    »Sprich für dich«, entgegnete Lou auf dem Stein unbeeindruckt.
    »Tu ich doch.«
    Sie schwiegen eine ganze Weile, denn Lou Suffern hatte erst vor kurzem am eigenen Leib erfahren, was aus Stille entstehen kann. Eine Möwe schoss zu ihnen herab, krächzte, betrachtete die beiden Lous misstrauisch und flog wieder davon.
    »Die erzählt jetzt allen ihren Freundinnen von uns«, sagte Lou auf dem Stein.
    »Wir sollten’s uns aber nicht zu Herzen nehmen, für mich sehen die nämlich auch alle gleich aus«, meinte der andere Lou.
    Wieder lachten beide.
    »Ich kann nicht glauben, dass ich über meine eigenen Witze lache«, bemerkte Lou im Gras

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