Zeit deines Lebens
und rieb sich die Augen. »Wie peinlich.«
»Was geht hier eigentlich ab? Was meinst du?«, fragte Lou auf dem Stein ernst.
»Wenn du es nicht weißt, weiß ich es auch nicht.«
»Ja, aber wenn ich eine Theorie habe, dann hast du auch eine.«
Sie sahen einander an und wussten genau, was der jeweils andere gerade dachte.
Lou wählte seine Worte sorgfältig, bewegte sie eine Weile probeweise im Mund hin und her und sagte dann: »Ich bin nicht abergläubisch, aber ich denke, wir sollten diese Theorien für uns behalten, meinst du nicht? Es ist, wie es ist. Belassen wir es dabei.«
»Ich möchte aber nicht, dass jemand verletzt wird«, gab Lou auf dem Gras zu bedenken.
»Hast du gehört, was ich gerade gesagt habe?«, sagte Lou verärgert. »Dass du nicht darüber sprechen sollst.«
»Lou!«, rief Ruth aus dem Garten, und das brach den Bann zwischen ihnen.
»Komme!«, antwortete er und streckte den Kopf über den Zaun. Vor der Küchentür entdeckte er Pud, der dank seiner jüngst erworbenen Laufkünste ins Freie gelangt war und im Gras herumeierte wie ein zu früh geschlüpftes Küken. Er war hinter seinem Ball her, doch jedes Mal, wenn er in seine Nähe kam, kickte er ihn mit seinen übereifrigen Beinchen wieder weg. Schließlich aber zog er den richtigen Schluss daraus, hielt inne, ehe er den Ball erreicht hatte, schlich sich dann langsam von hinten an ihn heran, als rechnete er jederzeit damit, dass der Ball sich von alleine davonmachte, und hob kickbereit den Fuß. Weil er das Stehen auf einem Bein allerdings noch nicht geübt hatte, plumpste er mitten in der Bewegung um und landete auf seinem gutgepolsterten Hinterteil im Gras. In diesem Moment kam Lucy mit Schal und Mütze aus der Tür gelaufen, um ihrem kleinen Bruder beim Aufstehen zu helfen.
»Sie ist Ruth so ähnlich«, hörte Lou eine Stimme dicht an seinem Ohr und merkte, dass der andere Lou ihm gefolgt war.
»Ich weiß. Warte mal, was für ein Gesicht sie jetzt gleich macht.« Sie beobachteten, wie Lucy Pud mütterlich für seine Unachtsamkeit tadelte. Beide Lous lachten genau gleichzeitig über ihre ernste, erwachsene Miene.
Doch der Versuch, den kleinen Bruder an der Hand zu nehmen und ins Haus zurückzuführen, misslang gründlich. {299 } Pud protestierte lautstark, riss sich los und warf in einem Mini-Wutanfall die Ärmchen in die Luft. Kurz darauf beschloss er, allein ins Haus zurückzuwatscheln.
»Und an wen erinnert dich das?«, fragte Lou.
»Okay, wir sollten jetzt wirklich aufbrechen. Du gehst zum Hafen runter, ich fahre mit Ruth und den Kids in die Stadt. Sorg dafür, dass du pünktlich auf dem Boot bist, ja? Ich musste Quentin praktisch bestechen, dass du ihm heute helfen darfst.«
»Natürlich werde ich pünktlich sein. Brich dir nicht die Beine auf den Schlittschuhen.«
»Und du geh nicht unter.«
»Wir werden den Tag genießen.« Lou schüttelte sich selbst die Hand, und im Nu wurde aus dem Händeschütteln eine Umarmung – die herzlichste und innigste, die er seit sehr langem erlebt hatte.
Schon zwei Stunden vor dem Rennen traf Lou am Hafen ein. Er war so viele Jahre keine Regatta mehr gesegelt und wollte sich ein bisschen Zeit nehmen, um sich wenigstens wieder an den Jargon zu gewöhnen und ein Gefühl für das Schiff zu bekommen. Außerdem musste er eine Beziehung zum Rest der Crew aufbauen: Kommunikation war der Schlüssel jeder erfolgreichen Segeltour, und er wollte keinen der Beteiligten hängenlassen. Nein, das stimmte nicht ganz – er wollte hauptsächlich Quentin nicht enttäuschen. Ohne Probleme fand er die
Alexandra
, das wunderschöne Vierzig-Fuß-Segelboot, das Quentin vor fünf Jahren gekauft hatte und auf dem er nicht nur jede freie Minute verbrachte, sondern in das er auch jeden Cent steckte, den er erübrigen konnte. Quentin und fünf seiner Teammitglieder {300 } waren bereits an Bord, hatten die Köpfe zusammengesteckt und besprachen den Kurs und ihr taktisches Vorgehen.
Lou überlegte: Es sollten nur sechs Leute an Bord sein, und wenn er sich den anderen anschloss, waren sie zu siebt.
»Hi, ihr alle!«, rief er im Näherkommen.
»Lou!« Überrascht blickte Quentin auf, und Lou wurde plötzlich klar, weshalb schon sechs Leute da waren: Quentin hatte nicht damit gerechnet, dass sein Bruder tatsächlich aufkreuzen würde.
»Ich komme doch hoffentlich nicht zu spät? Du hast halb zehn gesagt, oder?«
»Ja, klar, natürlich.« Quentin bemühte sich, seine Verwunderung zu überspielen. »Absolut. Ich
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