Zeit der Eisblueten
hatten, oder ob diese Art verdeckter Feindseligkeit eine alltägliche Plage war.
»Ist das Ihr Ernst?«, erwiderte er zornig und fest entschlossen, das letzte Wort zu behalten.
Die Männer lachten. Irgendwie schienen sie nun auf seiner Seite zu sein, und der Vorfall wirkte plötzlich weniger bedrohlich. Als er sich umdrehte, stellte er fest, dass Martha Kusugaq mit verschränkten Armen neben ihrem Taxi stand. Er hatte den Eindruck, dass sie ihm unmerklich zunickte, eine strenge Ermunterung. So gelassen wie möglich trug er seine schweren Koffer in die Lobby.
Im Hotelrestaurant bekam er ein erstaunlich gutes Essen serviert. Die Spezialität des Hauses: Elchpastete mit Lingonbeerensauce und Reis. Der Hauswein war gut, wenn auch ein wenig süß. Doch er trank ihn, weil er die erwünschte Wirkung hatte. Außer einem älteren Paar in einer Ecke war er allein. Sie leerten eine Flasche dunklen, bernsteinfarbigen Alkohols. Dazu rauchten sie in schweigender Hartnäckigkeit je ein Päckchen Zigaretten.
Im Gegensatz dazu war der »Biersalon« brechend voll. Durch den Bogengang, durch den ein Schwall von Rauch und Lärm ins Restaurant herüberzog, hatte Dafydd einen guten Blick auf die Bar. Männer in Arbeitskleidung drängten sich um kleine Tische, während Serviererinnen in Miniröcken hin und her rannten. Den Arm über die Köpfe der Gäste erhoben, balancierten sie riesige Tabletts mit randvollen Biergläsern auf einer Hand.
Durch den Bogen kam ein Paar herein. Sie entdeckten Dafydd und gingen auf ihn zu.
»Dafydd Woodruff?«, fragte der Mann.
»Das bin ich.«
In dem schummrig-rötlichen Licht wirkte der Mann stattlich und gerade, wenn auch ein wenig mager. Seine Haare waren blond und gewellt und reichten ein ganzes Stück über seine Schultern. Er trug enge, abgewetzte Jeans, die von einem geprägten Ledergürtel mit einer großen, verschlungenen Silberschnalle gehalten wurden. Die Frau war eine beeindruckende Rothaarige in einem kurzen, engen Lederrock. Über ihrer Brust spannte sich eine knappe weiße Hemdbluse. Trotz ihrer provozierenden Kleidung sah sie streng aus. Sie waren in seinem Alter, etwa Anfang dreißig.
Ein wenig irritiert versuchte Dafydd, die beiden einzuordnen, während er die ausgestreckte Hand schüttelte. Aber die langen Haare und die zwanglose Kleidung des Mannes boten ihm keinen Hinweis.
»Ian Brannagan«, stellte sich der Mann schließlich vor.
»Natürlich«, rief Dafydd und versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Sein künftiger Kollege hatte etwas eindeutig Unärztliches. »Ich habe nicht damit gerechnet, dass Sie … Ich dachte, dass ich alle erst morgen treffen würde.«
»Morgen werden Sie viel um die Ohren haben.« Ian Brannagan klopfte ihm leicht auf die Schulter, setzte sich hin und zog für die Frau einen weiteren Stuhl heran. Ihr Gesichtsausdruck war unergründlich, aber Ian Brannagan hatte trotz seiner scharfkantigen Züge eine freundliche und offene Ausstrahlung. Sein Kinn war eckig, und er hatte eine lange Nase. Seine Lippen waren dünn und farblos, doch sein Lächeln war breit und zeigte eine große Zahl gesunder Zähne. Bei näherer Betrachtung wirkte er sowohl vom Gesicht als auch von der Kleidung her vergrämt und müde.
Dafydd wandte sich der Frau zu und wartete darauf, ihr vorgestellt zu werden.
»Ich bin Sheila Hailey«, sagte sie und drückte seine Hand ohne weitere Erklärung mit festem Griff.
»Sie sind ein Geschenk des Himmels, mein Freund«, versicherte Ian Brannagan. »Wir sind am Verzweifeln, seit uns unser letzter, Monsieur Docteur Odent, vor zwei Wochen verlassen hat. Im Krankenhaus herrscht ein höllisches Chaos.«
»Tatsächlich?« Dafydd lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und versuchte, entspannt auszusehen. Höllisches Chaos! Und da brauchen sie jemanden wie mich?
Ian Brannagan steckte sich eine Zigarette an und sah auf die Reste der Elchpastete auf dem Teller. »Stört es Sie, wenn ich rauche?« Er schob sich zurück und musterte Dafydd auf unvoreingenommene, doch freundliche Art. Die Frau neben ihm richtete den Blick ebenfalls auf Dafydd, wenn auch weniger freundlich. Sie hatte sich mit zwanglos übereinandergeschlagenen Beinen ein wenig entfernt von ihnen hingesetzt.
»Wie lange sind Sie schon hier, Ian?«, fragte Dafydd.
»Oh, erst ein Jahr oder so.« Ian runzelte die Brauen. »Immerhin zwei Winter. Mein Gott, wie die Zeit vergeht.«
»Aber es gefällt Ihnen hier?«
»So lala«, antwortete Brannagan gleichmütig und nahm einen tiefen
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