Zeit der Eisblueten
er überhaupt auf einen törichten Brief reagieren, auf eine alberne Vermutung, die sich aus einer Entfernung von vielen tausend Kilometern wild gegen die falsche Person richtete?
»Alles fertig«, rief Jim ihm zu, nachdem er den Patienten anästhetisiert hatte. Die fröhliche neue Operationsschwester, eine junge Jamaikanerin, schwang ihre enormen Hüften zu irgendeiner Musik in ihrem Kopf. Dafydds andere Mitarbeiter standen da und warteten auf ihn, ihre Gesichter unergründlich hinter den Masken verborgen.
»Zu was für einer Musik tanzen Sie denn da?«, fragte er die Schwester, während er den Bauch vor sich aufschnitt.
»Ich kann nichts hören«, antwortete sie, und ihre riesige Brust bebte vor Lachen. »Vielleicht gefällt Ihnen diese Art von Musik nicht, Mr Woodrot.«
»Ich heiße Woodruff … Und ja, Ihr ständiges Herumgetanze stört ein wenig. Macht es Ihnen etwas aus …?«
Sie verstand ihn falsch. »Warum sollte mir das was ausmachen, Mann? Jeder hat seine eigene Meinung. Ich fühle mich nicht angegriffen.« Sie kicherte und schwang weiter die Hüften.
Ihre unverschämte Reaktion erheiterte ihn einen Moment lang. Zum Teufel, sie konnten hier ruhig mal ein wenig unbritische Sinnlichkeit gebrauchen; alle waren so schrecklich griesgrämig. Schweigend arbeiteten sie weiter, und die tanzende Schwester erledigte ihre Aufgabe mit außerordentlichem Geschick.
»Verfluchte Sheila«, flüsterte Dafydd vor sich hin, während er den entzündeten Blinddarm abschnitt und in den dafür vorgesehenen Behälter warf.
Die Schwester blickte zu ihm hoch. »Verzeihung, haben Sie etwas gesagt?«
»Nein, nichts.«
Sie reichte ihm ein Instrument, und er starrte es einen Augenblick lang an, ohne genau zu wissen, welchen Zweck es erfüllte. Das war es. Schlagartig wurde ihm klar, dass seine bohrende Besorgnis nicht so sehr dem Brief des Mädchens und ihrem unsinnigen Anspruch galt, als vielmehr Sheila Hailey selbst. Wenn diese Frau ihre Tochter hierzu angestiftet hatte, würde es sicher noch Ärger geben. Da hatte Isabel Recht. Aber warum jetzt, nachdem vierzehn Jahre vergangen waren und er auf der anderen Seite der Erdkugel lebte? Vielleicht kannten Bitterkeit und Hass keine Grenzen. Ein kurzes Schaudern lief ihm über Nacken und Schultern.
»Ist alles okay mit Ihnen?«, fragte die Schwester und sah ihn an.
Jim reckte den Kopf um die Vorhänge. Die Masken machten es unmöglich zu erkennen, was sie dachten. Sowohl Jim als auch die Schwester – er kannte noch nicht einmal ihren Namen – wirkten besorgt. Dafydd beugte sich über seine Arbeit und zwang sich erneut zur Konzentration. Er suchte das untere Ende des Dünndarms gründlich nach einem Meckelschen Divertikel ab, bevor er damit begann, das Peritoneum zu schließen. Die Patientin war ein Mädchen Anfang zwanzig mit einem erfreulich glatten Bauch. Sie würde zufrieden sein.
Dafydd streifte Handschuhe und Kittel ab und ging zum Pausenraum. Gerade saß er an seinem Laptop und schrieb seine Kommentare für die Krankenakte der Patientin, als Jim in seiner üblichen vorgebeugten Haltung durch die Tür geschlendert kam.
»Alles klar?«, fragte Jim beiläufig und goss sich eine Tasse der teerschwarzen Flüssigkeit aus der Kaffeemaschine ein.
Dafydd schaute auf. »Ja … Wieso?«
»Ist alles in Ordnung?«
War sein Konzentrationsmangel so auffällig gewesen? Jim war einer der wenigen Kollegen, die ihn gut kannten. Er wusste von den Schwierigkeiten zwischen Isabel und ihm, von den vergeblichen Fruchtbarkeitsbehandlungen und all dem damit verbundenen Kummer.
»Ja, alles bestens«, log Dafydd und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
»Und Isabel?«
»Oh, na ja, es hat sich bisher noch nichts getan. Sie kann es nicht dabei bewenden lassen. Zumindest hat sie eine Menge Aufträge. Sie reist überall hin. Ich sollte mich wirklich darüber freuen. Wer weiß …« Er lachte ungeduldig. »Vielleicht sollte ich mich ja um eine Frühpensionierung bemühen.«
»Sei nicht albern. Bei deinem Aussehen«, erwiderte Jim und blickte auf seine eigene ständig zunehmende Taille hinab.
Dafydd klappte den Laptop zu und begann, seine Sachen einzusammeln. Einen Moment lang war er versucht, Jim von dem Brief zu erzählen. Aber stattdessen knuffte er ihn in den Bauch und meinte: »Schwing dich aufs Rad, Kumpel. Sprich nicht immer nur darüber.«
Eigentlich hatte er keine Lust, nach Hause zu gehen. Die Anschuldigung konnte nicht einfach zu den Akten gelegt werden. Isabel würde den ganzen
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