Zeit der Geheimnisse
kümmern musste, und da hat Dad angefangen zu weinen, mitten in der Küche. Grandma hat mich rausgeschickt, aber ich habe gelauscht und gehört, wie sie gesagt hat: »Du weißt, Toby, dass wir die Kinder jederzeit gerne nehmen.«
Als Grandma das sagte, kam es mir vor, als gäbe es auf einmal zwei Mollys. Die eine war aufgeregt – ich mag Grandma, und vor allem mag ich Grandpa, und aufs Land zu ziehen, zu seinen Großeltern, das hat schon was von einem großen Abenteuer, so als würde man evakuiert, mit einem Namensschild um den Hals. Aber die andere wusste, dass die Vorstellung nur deshalb aufregend war, weil so etwas nie wirklich passieren würde. Weil ich niemals geglaubt hätte, nicht im Ernst, dass ein Vater wie unserer, ein guter Vater, der uns liebt und nicht in den Schrank sperrt oder aus Vergesslichkeit hungern lässt, uns jemals im Stich lassen würde, nicht wirklich.
Aber genau das hat er getan.
16 - Es regnet Fragen
Als Dad weg ist, gehe ich runter und stelle mich in die Ladentür. Es regnet wieder. Nicht in Strömen oder wie aus Gießkannen, nur dieser zittrige silbrige Nieselregen, so dünn, dass man sich kaum sicher sein kann, ob er wirklich da ist oder nicht. Winzige Tröpfchen bleiben unten an der Dachkante hängen und auch an meinem Ärmel, wenn ich den Arm ausstrecke.
»Es nieselt«, sage ich laut.
»Es fieselt«, sagt Grandpa. »Fieselregen ist noch feiner.«
»Kann ich raus?«, frage ich. »Ich hab den Mann gefunden – den, der sich in Nichts aufgelöst hatte. Er versteckt sich in einem kleinen Haus. Er kann Blumen wachsen lassen.«
»Ist gut«, sagt Grandpa. Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob er mir glaubt. »Aber pass auf, dass du nicht nass wirst.«
»Ich werde gerne nass«, sage ich.
»Na schön, Wuschelköpfchen«, sagt Grandpa. Er kommt herüber und stellt sich hinter mich in die Tür. Zusammen sehen wir in den Regen.
»Sei nicht böse auf deinen Dad«, sagt er auf einmal. »Er tut sein Bestes.«
Überrascht lehne ich den Kopf in den Nacken und sehe zu Grandpa auf. Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn.
»Geh nur«, sagt er. »Geh und finde den Burschen. Bevor ich’s mir anders überlege.«
In diesem Fieselregen sieht alles verändert aus. So als ob man durch Nebel liefe. Die Bäume ganz hinten sind fast nicht zu erkennen. In diesem Geniesel. Oder Gefiesel.
Ganz, ganz langsam schiebe ich die Scheunentür auf.
»Hallo?«
Er ist da.
Er hat sich wieder bewegt. Er musste. Sein Baum ist nämlich gewachsen. Jetzt ist er kein Schössling mehr, sondern ein richtiger kleiner Baum. Seine obersten Äste reichen schon über das halb eingestürzte Dach. Kleine Blätter haben sie auch schon, und auf allen liegen feine Regentröpfchen. Es sind Eichenblätter, die wie Bilderbuchwolken aussehen.
Auch der Efeu ist gewachsen. Er reicht schon über die halbe Wand hinter dem Mann. Kleine gelbe Blumen drängen durch den Boden. Er lehnt mit dem Rücken am Baumstamm. Er sieht freundlich und fremd und wild aus – und irgendwie älter als beim letzten Mal. Ich komme überhaupt nicht dahinter, was er denn nun ist. Zu Hause denke ich, dass er vielleicht ein Landstreicher ist oder ein entlaufener Gefangener oder so, aber hier glaube ich tatsächlich, dass er ein Gott ist, wie Miss Shelley gesagt hat.
Ich ziehe mein Notizbuch aus der Tasche und lege gleich los.
»Wie heißt du?«
Er runzelt die Stirn.
»Also, ich zum Beispiel bin Molly. Und du?«
»Ich habe keinen Namen, jedenfalls keinen wie Molly«, sagt er. »Wieso sollte ich?«
So wie er das sagt, klingt es nicht ärgerlich, nicht wie bei Hannah. Aber seltsam. So als wüsste er wirklich nicht, was ich meine.
Die nächste Frage auf meiner Liste ist: Bist du der Sommergott?, aber jetzt wo ich hier bin, traue ich mich nicht, sie zu stellen. Also versuche ich es mit etwas anderem.
»Wie alt bist du?«
Wenn er wirklich Miss Shelleys Gott ist, dann ist er erst im Frühling zur Welt gekommen.
»Älter als eine Eichel.«
»Hast du schon einen Winter erlebt?«
»Einen Winter? Wieso?«
»Bald kommt einer. Dann wird dir kalt werden.«
Er sieht mich mit seinem liebevollsten Blick an.
»Mir wird nie kalt.«
Ich stütze mein Kinn auf die Knie und schlinge die Arme darum. Mir ist jedenfalls kalt. Sogar hier unter dem Dach erwischt mich der Regen immer noch, wenn der Wind hereinbläst.
»Wieso kann niemand anderer dich sehen? Wieso verschwindest du immer?«
»Macht es dir etwas aus?«, fragt er. »Ich will dich nicht
Weitere Kostenlose Bücher