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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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andere Gestalten brechen durch die Hecken, klein, dunkel und wild: Hunde mit schwarzen Läufen und weißen Zähnen. Andere Jäger sind hinter uns und um uns herum, und ich drehe mich nach dem Grünen Mann um. Ich sehe Umrisse von Hörnern, die wie schwarze Schatten aus seinem Kopf wachsen, und ganz plötzlich habe ich doch Angst. Ich war schon einmal hier. Ich erinnere mich – die Nacht, die Wilde Jagd, der Mann, den sie jagten, nur dass dieses Mal dieser Mann nicht der Gejagte ist, sondern der Jäger.
    Die Jäger stürmen durch die Nacht. Die Hunde heulen. Der Eichenkönig gibt seinem Pferd die Sporen, über und durch Hecken geht es, Zweige und spitze Blätter bohren sich in meine Beine und zerren an meinen Kleidern. »Halt!«, rufe ich. »Halt!«, aber der Grüne Mann lacht nur. Wieder ist er anders: wilder, gefährlicher. Ich klammere mich an die Mähne des Pferdes, schlinge meine Beine fest um seinen Bauch. Er hält mich noch immer mit einem Arm, aber nun lacht er und treibt die Hunde immer weiter an. Wenn ich vom Pferd falle, werde ich unter den Hufen zermalmt werden, und – mit Schrecken wird mir das plötzlich klar – er wird meinetwegen nicht umkehren. Er würde nicht einmal merken, dass ich nicht mehr da bin.
    Ich will, dass er anhält. Ich will ihm sagen, dass ich es mir andersüberlegt habe, dass er den Stechpalmenkönig gehen lassen soll. Ich habe solche Angst. In meinem Kopf geht alles durcheinander – wer ist hier der Gute, wer der Böse, wer hat recht, wer unrecht? Aber ich kann nichts weiter machen, als mich an der Mähne seines Pferdes festzuklammern und darauf zu warten, dass es zu Ende geht, wie auch immer das Ende sein wird.
    Wir jagen durch die Felder, durch die Nacht. Über uns wirbeln die Sterne, unter uns dreht sich die Welt. Der Winter ist vorüber. Heute ist die Frühlings-Tagundnachtgleiche, heute Nacht beginnt eine neue Herrschaft.
    Die Hunde heulen. Sie haben entdeckt, wonach sie gesucht haben: einen rennenden Mann. Wie schwarzes Wasser rasen sie den Hügel hinab und stürzen sich auf ihn. Er hält eine Hand vor sein Gesicht, aber er liegt am Boden, die Hunde sind über ihm, und ich sehe, er hat keine Hörner mehr, er ist einfach nur ein Mann, und ich schreie und schreie, und der Grüne Mann hat sein Pferd angehalten und sieht zu, sieht einfach nur zu, ohne etwas zu tun, und dann … Und dann ist es vorbei.
    Die Welt ist ganz still. Die Jäger und die Hunde sind fort. Außer uns ist niemand mehr da – außer mir und dem gehörnten Eichenkönig auf unserem Pferd und dem Stechpalmenkönig unten im Gras, der noch immer eine Hand über seinen Kopf hält. Er blutet, aber er lebt noch. Er starrt uns an. Er sagt nichts.
    Ich weine. Tränen rollen mir übers Gesicht. Ich weine, weil ich doch dachte, der Eichenkönig sei gut und der Stechpalmenkönig sei böse, aber so einfach ist es eben nicht, denn wenn man den Sommer will, muss der Winter sterben, und wenn man den Winter will, muss auch der Sommer sterben – weil Persephone unter die grüne Erde muss – weil die Welt sich drehen muss – weil der Stechpalmenkönig und der Eichenkönig miteinander kämpfen müssen und einer den anderen besiegen muss.
    Mein Grüner Mann – der jetzt der gehörnte Jäger ist, der Anführer der Wilden Jagd – steht aufrecht auf seinem hohen Pferd. Er sagt kein Wort zu dem Stechpalmenkönig, und auch zu mir sagt er nichts. Er sieht nur auf den anderen herab, wie er daliegt im Gras. Dann zieht er das Pferd an der Mähne und wendet es, zurück zum Dorf, zurück nach Hause.

 
     
    Eine Unterhaltung mit Miss Shelley
     
     
    In der Schule bin ich müde. Miss Shelley redet über Hängebrücken, aber ihre Worte gleiten wie Wasser an meinem Kopf ab, und ich bekomme gar nichts mit. Die Brücke, die sie an die Tafel gezeichnet hat, ist am Boden befestigt, wie kann sie dann eine Hängebrücke sein?
    Als Alexander mich überreden will, seine Petition zu unterschreiben, in der es darum geht, dass es beim Schulessen wieder Pommes geben soll, blinzele ich ihn nur müde an.
    »Euch kann das ja egal sein«, sagt er. »Ihr bekommt zu Hause Pommes frites. Aber ich nicht. Dabei ist es ja nicht mal so, als hätten die keine Vitamine. Schließlich sind es doch immer noch Kartoffeln, oder? Sie sind sozusagen unser Nationalgericht. Man will mir also eine wichtige kulturelle Erfahrung vorenthalten!«
    »Wir haben ein Nationalgericht?«, frage ich, und Alexander geht kopfschüttelnd zu Emily hinüber.
    Als es zur Pause läutet,

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