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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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hält Miss Shelley mich zurück.
    »Alles in Ordnung mit dir, Molly?«, fragt sie.
    Es ist schon komisch: Nach allem, was in den letzten Monaten passiert ist – Mum stirbt, Dad lässt uns im Stich, mein Grüner Mann stirbt und kommt wieder –, nach all dem fragt sie mich ausgerechnet heute, ob alles in Ordnung ist mit mir.
    »Ja …«, sage ich. Und dann: »Miss Shelley, erinnern Sie sich an die Wilde Jagd?«
    »Ja.«
    »Ist sie gut oder böse?«
    Miss Shelley streicht sich die Haare hinters Ohr und sieht mich nachdenklich an.
    »Weißt du«, sagt sie dann, »ich bin selbst nie wirklich dahintergekommen.«
    »Steht das nicht in den alten Geschichten?«
    »Ach, Geschichten«, sagt sie. »Auf Geschichten würde ich mich nicht verlassen. Die erzählen dir heute dies und morgen das.« Sie reibt sich den Nacken. »Heute Nacht war Frühlings-Tagundnachtgleiche.«
    »Wirklich?«
    »O ja.« Sie sieht mich an, und auf einmal fängt sie an zu lachen. »Jetzt mach nicht so ein sorgenvolles Gesicht, Molly!«, sagt sie.
    »Bis zur Walpurgisnacht, also bis zur Nacht auf den ersten Mai, kommen sie nicht wieder. Und sie haben dir nichts getan, oder?«
    »Die … Sie meinen, es gibt sie wirklich?«
    »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagt Miss Shelley ernst. »Alle Fragen, in denen es nicht um das große Einmaleins oder Brückenbauten geht, sind an die heidnische oder religiöse Vertrauensperson des Fragestellers zu richten.« Durch die Sonne sind auf Miss Shelleys Nase lauter neue Sommersprossen aufgetaucht, und einen Moment lang sieht sie meiner Mum so ähnlich, dass es wehtut. »Stattdessen könntest du aber auch rausgehen und dir ansehen, wie die Pferde die Straße zugerichtet haben«, sagt sie. »Wie du willst.«

 
     
    Ein Spiel, das ich nicht mehr spiele
     
     
    Und jetzt ist der Sommer da. Mit blauem Himmel – manchmal – und Sandalen und karierten Schulkleidern, und die Sonne scheint warm genug, dass wir die Mäntel zu Hause lassen können. Auf der Wiese sprießen Gänseblümchen, durch die Ritzen im Asphalt kommt Löwenzahn hoch, und an den Böschungen entlang der Landstraße wachsen Fingerhut und Bärenklau.
    Dad hat die Stelle in Newcastle bekommen. Sobald er unser Haus verkauft hat, ziehen wir zu ihm zurück, vermutlich am Ende des Schuljahres, sagt Grandpa. Dad hat ein Angebot gemacht für ein lustiges kleines Reihenhaus auf der anderen Seite der Stadt, mit einem langen Löwenzahngarten und einer Platane mit Reifenschaukel. Für mich gibt es gleich am Ende der Straße eine Schule, und Hannah kann auf eine ziemlich ruppige weiterführende Schule mit Hockey-Team und Jugendzentrum und Gitarrenunterricht.
    »Das wurde auch mal Zeit«, sagt Grandma, aber Grandpa kocht Tee, gibt sich ganz geschäftig und sagt nichts dazu.
    »Werdet ihr uns nicht vermissen?«, fragt Hannah, und Grandma schnaubt durch die Nase.
    »Das hättest du wohl gerne, stimmt’s?«, sagt sie. Aber Hannahs Miene stimmt sie dann doch milder. »Ein bisschen vielleicht. Wir haben uns so daran gewöhnt, dass ihr um uns herum seid und den Laden ein bisschen aufmischt.«
    »In den Ferien müsst ihr uns immer besuchen«, sagt Grandpa, und Hannah verspricht es.
    In der Schule dürfen wir jetzt zum Spielen wieder raus auf die Wiese, und wir machen eine gigantische Schlacht mit dem frisch gemähten Gras. Die Kleinen bauen Nester darin für ihre Barbies und Puppenfamilien und Superhelden. Manchmal helfen Emily und ich ihnen, obwohl wir natürlich viel zu groß sind für solche Babyspiele.
    Wenn wir nicht mit den Kleinen spielen, ziehen wir drei alleine los, Alexander und Emily und ich. Dann klettern wir auf die Bäume am Feldrand und verraten einander unsere Geheimnisse. Emily erzählt, dass ihr Dad ihr Traktorfahren beibringen will, denn solange man auf seinem eigenen Feld herumfährt, braucht man keinen Führerschein, und wenn wir sie besuchen kommen, bringt er es uns auch bei. Alexander erzählt uns, wie sehr er Fußballspielen hasst, weil die anderen Jungen ihn immer zum Torwart machen und er alle Bälle reinlässt.
    »Wie ist es eigentlich, wenn man bei seinen Großeltern lebt?«, fragt Alexander, und ich ziehe die Nase kraus.
    »Auf dem Land leben ist schön«, sage ich. »Aber ich vermisse meinen Dad.«
    »Und wie ist es, wenn man keine Mum hat?«, fragt Emily mit ihrer leisen Stimme.
    Ich denke nach.
    »Einsam«, sage ich. »Jetzt wo Dad zurück ist, ist es schon besser. Aber einsam ist es trotzdem.«
    »Dafür hast du jetzt uns«, sagt Emily,

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