Zeit der Gespenster
schnaubte Lottie und wischte sich die schmutzigen Hände an ihrem Rock ab.
»Tut mir leid … ich hatte bloß jemand anderen erwartet.«
»Diesen hinreißenden Cop?« Lottie grinste. »So was Köstliches und Kalorienfreies ist mir schon lange nicht mehr unter die Augen gekommen.«
Lachend half Shelby ihr, den Karton auf den Schreibtisch zu hieven. »Glaub mir, er ist trotzdem Gift für deinen Blutdruck. Was schleppst du denn da an?«
»Wir haben gestern einen neuen Heizkessel bekommen – und ich hab im Keller an die dreißig Kisten Akten gefunden, von deren Existenz kein Mensch was wusste … du kannst dir vorstellen, wie alt der Heizkessel war. Jedenfalls, da du nach irgendwas aus den Dreißigerjahren suchst, hab ich dir den Karton mit Unterlagen aus der Zeit mitgebracht. Vielleicht hast du ja Lust, sie mit deinem Detective zusammen durchzusehen.« Sie hob eine Augenbraue. »So was ist abendfüllend.«
Shelby öffnete den Deckel des Kartons und musste husten, als Staub aufflog. Drinnen waren Dutzende von Papierrollen. »Blaupausen?« Sie nahm eine heraus, entrollte sie und beschwerte die Enden mit Kriminalromanen.
Offenbar wurden die Verbindungen von Alkoholikern und Krüppeln und Sexualstraftätern und unehelichen Kindern und Straftätern schematisiert dargestellt. Shelby sah sich einige der Symbole genauer an. In Anstalt für Schwachsinnige. Schwachsinnig. Verdacht auf Schwachsinn . Die Darstellung erweckte den Anschein, als würden sich all diese gesellschaftlichen Übel mit nachfolgenden Generationen weiter ausbreiten und als wären sie mit den beiden Unglücklichen in der Mitte verwurzelt, die geheiratet und sich fortgepflanzt hatten. Auf einem zweiten Schaubild, einem Säulendiagramm, war die Familie nach »sozialen« und »unsozialen« Personen angeordnet. In der Erklärung hieß es: Sozial: wünschenswerte Bürger – gesetzestreu, wirtschaftlich unabhängig und sozial engagiert. Unsozial: Personen, die zwar keine der genannten Defekte erkennen lassen, aber offenbar keinerlei gesellschaftlich wünschenswerte Neigungen zeigen, sowie Personen, über die zu wenig bekannt ist, um eine Einschätzung abzugeben.
»Lottie«, sagte sie, »was hast du denn da gefunden?«
Sie entrollte eine zweite Karte über der ersten. AHNENTAFEL EINER ZIGEUNERFAMILIE, DIE DELACOURS. Ein handbeschriebenes Blatt schwebte zu Boden. »Mitteilung an Harry – Geschlechtsdefizit offenbar holandrisch. Tafeln in Anhörungen über Sterilisationsgesetz verwenden?« Das Blatt hatte einen Briefkopf: Spencer A. Pike, Professor für Anthropologie, University of Vermont.
Der Karton enthielt weitere Ahnentafeln und Korrespondenz und Karteikarten, die säuberlich mit der Hand beschriftet waren, offenbar Fallstudien von Personen, die den Erbforschern gut ins Konzept gepasst hatten: Mariette, ein sechzehnjähriges Mädchen in einer Besserungsanstalt, hatte eine Reihe kleinerer Diebstähle verübt, und sie hatte ein ungezügeltes Temperament. Oswald hatte dunkle Haut und unstete Augen, er neigte, wie sein Stamm, zum Vagabundenleben und hatte – als Ergebnis einer unehelichen Verbindung – in sieben Jahren sieben minderbegabte Kinder hervorgebracht. Shelby nahm den vierten Jahresbericht des Vermont Committee on Country Life aus dem Karton. Er klappte auf einer Seite mit Eselsohren auf. Dort stand ein Artikel, der von H. Beaumont und S.A. Pike verfasst worden war. »Entartungen lassen sich nicht wegzüchten«, las Shelby laut, »aber durch eine günstige Partnerwahl lassen sie sich eindämmen und abschwächen.«
»Eugenik«, las Lottie und hielt einen weiteren Jahresbericht hoch. »Was ist denn das?«
»Die Wissenschaft von der Verbesserung der Erbeigenschaften durch kontrollierte Fortpflanzung.«
»Wie beim Vieh?«
»Ja«, sagte Shelby, »aber hier geht es um Menschen.«
Eli hatte um neun Uhr Feierabend gemacht, doch statt direkt nach Hause zu fahren, entschied er sich, vorher rasch noch in der Stadt nach dem Rechten zu sehen.
Er fuhr ziellos die Zufahrtsstraße zum Steinbruch entlang, Watson neben sich. Wenn er den Fall löste, würde ihm das bestimmt keine Beförderung einbringen. Cissy Pike würde nicht wieder lebendig werden. Und die Staatsanwaltschaft würde einem Überneunzigjährigen mit schwerer Lebererkrankung mit Sicherheit nicht den Prozess machen. Warum also war ihm die Sache so wichtig?
Watson drehte sich um und stieß Eli gegen den Arm. »Es ist zu kalt draußen. Ich lasse dein Fenster nicht herunter.«
Die Antwort
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