Zeit der Gespenster
war: Cissy Pike hatte ihn ins Grübeln gebracht. Darüber, wie wichtig es war, einen Bezug im Leben zu haben – eine Familie, einen geliebten Menschen, eine Geschichte –, und wie hoch der Preis war, wenn man die Wahrheit verschwieg.
Eli wollte zu der Zeremonie gehen, die Az Thompson anlässlich der Umbettung von Cissy Pike und ihrem Kind plante. Nicht weil er als Cop mit dem Fall zu tun hatte, sondern weil er wie Cissy Halb-Abenaki war. Und weil er wusste, wie es einem dabei erging, wenn man diese Tatsache verschwieg.
Watson rutschte näher zu Eli, grub seine Schnauze hinten in Elis Hemdskragen. »Also gut«, gab er nach und öffnete das Fenster. Watson liebte es, bei offenem Fenster zu fahren, wenn ihm vom Wind die Lefzen flatterten. Plötzlich hob er die Nase und fing an zu heulen.
»Leise, Watson, die Leute wollen ihre Ruhe.«
Der Hund schlug bloß einen höheren Ton an, stand dann auf und wedelte seinen Schwanz genau vor Elis Gesicht. Um nicht von der Straße abzukommen, fuhr Eli rechts ran. Watson sprang aus dem Fenster, bevor der Wagen zum Stehen gekommen war, und lief zu dem Zaun, der die Ostwand des Steinbruchs umgab. Er bellte und stellte sich auf die Hinterbeine, als jemand auf der anderen Seite aus der Dunkelheit trat. Der Junge hatte Handschuhe an. Es war zwar kühl, aber nicht kalt. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte Eli, das Gesicht unter dem Schirm der Baseballmütze zu erkennen, doch er sah nur die Haut, die so weiß schimmerte wie der Mond. »Ethan?«, rief er.
Der Kopf des Jungen hob sich. »Ach«, sagte er enttäuscht. »Sie sind’s.«
»Was machst du hier? Wer hat dich auf das Gelände gelassen?«
»Bin über den Zaun geklettert.«
»Weiß deine Mom, wo du bist?«
»Klar«, erwiderte Ethan.
Eli war darüber informiert, dass am nächsten Morgen bei Tagesanbruch im Steinbruch gesprengt wurde, und es behagte ihm gar nicht, dass Ethan sich in der Nähe von Sprengstoff aufhielt. »Kletter rüber.«
»Nein.«
»Ethan, ich kann dich auch holen.«
Ethan zögerte, dann warf er sein Skateboard zu Eli rüber, kletterte am Maschendrahtzaun hoch und hielt Eli die Handgelenke hin. »Na los. Legen Sie mir Handschellen an wegen unbefugten Betretens.«
Eli unterdrückte ein Lächeln. »Ich werde noch mal ein Auge zudrücken.« Er ging zum Wagen. »Wie bist du überhaupt hergekommen?«
»Ich bin einfach immer weitergegangen.«
Eli blickte wieder auf die Handschuhe, die Ethan trug.
»Hat sie Ihnen das nicht erzählt?«, sagte der Junge bitter. »Ich bin ein Freak.«
»Sie hat mir gar nichts erzählt«, erwiderte Eli, scheinbar desinteressiert; er ließ Ethans Skateboard fallen, ging zu seinem Wagen und pfiff Watson zu sich. »Also dann. Bis demnächst.«
»Wollen Sie mich hier stehen lassen?«
»Klar. Deine Mom weiß doch, wo du bist.«
Statt einer Antwort warf Ethan sein Skateboard hinten auf den Pick-up und stieg ein. Eli fuhr los. »Als ich geboren wurde, hatte ich Schwimmhäute zwischen den Fingern.« Er spürte, wie Ethan einen Blick auf seine Hände am Lenkrad warf. »Die Ärzte mussten sie auseinanderschneiden.«
»Ekelhaft«, sagte Ethan und wurde dann rot. »Tschuldigung.«
»Schon gut. Das war eben so. Ich hab trotzdem gemacht, was ich wollte.«
»Ich hab XP. Das ist so, als wäre ich allergisch gegen die Sonne. Und ich kann nicht machen, was ich will.«
»Was würdest du denn gern machen?«
»Schwimmen gehen und mich in der Sonne trocknen lassen.« Er warf Eli einen Blick zu. »Ich muss sterben.«
»Das müssen wir alle.«
»Ja, aber ich kriege Hautkrebs. Von der ganzen Zeit, die ich früher in der Sonne war, bevor klar war, was ich habe. Die meisten mit XP werden keine fünfundzwanzig Jahre alt.«
Eli spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. »Vielleicht bist du ja der Erste, der älter wird.«
Ethan blickte eine Weile zum Fenster hinaus, schweigend. Dann sagte er: »Ich bin früh wach geworden, und es war keiner da. Also bin ich nach draußen gegangen. Bin zum Skateboard-Park an der Schule. Aber dann mussten die anderen Kids nach Hause, ins Bett. Und ich war ja kein bisschen müde, weil ich den ganzen Tag geschlafen hatte. Ich bin einfach losmarschiert und hier gelandet. Ich bin ein Freak«, wiederholte er. »Auch wenn ich’s versuche, ich gehöre nirgendwo dazu.«
Eli blickte ihn an. »Und wieso meinst du, dass das bei den anderen anders ist?«
Ross war tatsächlich eingeschlafen. Als er wieder wach wurde, stand er auf und ging nach unten in die Küche, um
Weitere Kostenlose Bücher