Zeit der Gespenster
Augen. Shelby roch nach seiner Kindheit.
Plötzlich wich sie zurück. »Ach, Ross«, murmelte sie, schob dann die Hand unter seinen Hemdkragen und zog die lange Kette heraus, die er darunter verbarg. Der Anhänger war ein Brillantring, ein gefallener Stern. Shelby schloss die Faust darum.
Ross fuhr zurück, und die Kette zerriss. Er packte Shelbys Handgelenk und schüttelte es, bis sie den Ring losließ und er ihn in der Hand hielt. »Nicht«, sagte er scharf.
»Aber es ist doch schon …«
»Meinst du, ich wüsste nicht, wie lange es her ist?« Ross wandte sich ab.
Als Shelby ihn am Arm berührte, reagierte er nicht. Sie ließ es dabei bewenden und zog sich aus dem Zimmer zurück.
Shelby hatte recht – er brauchte Schlaf –, aber er wusste auch, dass er ihn nicht finden würde. Ross hatte sich an die Schlaflosigkeit gewöhnt, die jahrelang zu ihm unter die Decke gekrochen war.
Er legte sich aufs Bett und starrte an die Decke. Den Ring hielt er so fest in der Hand, dass sich die Zacken der Einfassung in seine Haut gruben. Er würde sich irgendwas besorgen müssen – eine Schnur, ein Lederband –, damit er ihn wieder um den Hals tragen konnte.
Als er um 5 Uhr 58 mit einem Ruck erwachte, war Ross völlig verblüfft. Er blinzelte, fühlte sich so gut wie seit Monaten nicht mehr. Es war das Fehlen des leichten Gewichts auf seiner Brust, das ihn an den Ring erinnerte. Ross öffnete die Faust und geriet in Panik. Der Brillantring, den er beim Einschlafen fest in der Hand gehalten hatte, war nirgends zu sehen. Ich hab sie verloren , dachte Ross, während er blicklos auf das starrte, was stattdessen in seiner Hand lag: ein Penny von 1932 – glatt wie ein Geheimnis, noch warm von der Berührung seiner Haut.
ZWEI
Für eine Achtjährige wusste Lucy Oliver ziemlich viel. Sie konnte die Hauptstädte aller US-Staaten aufzählen. Sie konnte erklären, wodurch eine Gewitterwolke entstand. Sie konnte RHYTHMUS vorwärts und rückwärts buchstabieren. Sie wusste auch noch andere Sachen, wichtigere, die man nicht in der Schule lernte. Zum Beispiel wusste sie, dass ihre Urgroßmutter, als sie vor einem Monat vom Arzt kam, kleine weiße Pillen dabeihatte, die sie jetzt in ihrem Schrank in einem orthopädischen Schuh versteckte. Sie wusste, dass etwas, das man nicht verstand, selbst dem klügsten Menschen auf der Welt Angst einjagen konnte.
Lucy wusste auch, ja, sie war felsenfest davon überzeugt, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis einer von denen sie erwischte.
Von Nacht zu Nacht veränderten sie die Gestalt. Manchmal waren sie die beweglichen Formen des Musters auf ihren Vorhängen. Manchmal waren sie die kalte Stelle auf dem Boden, wenn Lucy über die breiten Holzdielen zu ihrem Bett rannte. Manchmal waren sie ein Geruch, der Lucy von Laub und Dunkelheit und Kadavern träumen ließ.
Heute Nacht tat sie, als wäre sie eine Schildkröte. Nichts vermochte diesen harten Panzer zu durchdringen. Nicht einmal das Wesen, das genau in dieser Sekunde in ihrem Schrank atmete. Doch selbst mit weit geöffneten Augen konnte Lucy sehen, wie die Nacht sich veränderte. An manchen Stellen wurde sie deutlicher, an anderen wich sie zurück … bis Lucy schließlich in das durchsichtige Gesicht einer Frau starrte, das so traurig aussah, dass Lucy Magenschmerzen bekam.
Ich werde dich finden , sagte die Frau mitten in Lucys Kopf.
Sie unterdrückte einen Schrei, weil der ihre Urgroßmutter geweckt hätte, und riss sich die Decke über den Kopf. Ihre schmale Brust pumpte wie ein Kolben. Ihr Atem rasselte. Wenn diese Frau sie überall finden konnte, wo sollte Lucy sich dann verstecken? Würde ihre Mutter wissen, dass sie geraubt worden war, wenn sie die Delle sah, die Lucys Körper in der Matratze hinterlassen hatte?
Sie schob eine Hand unter der Decke hervor, griff nach dem Telefon, das sie auf ihren Nachttisch gelegt hatte, und drückte die Taste, die automatisch das Labor ihrer Mutter anwählte.
»Ach, Lucy«, seufzte ihre Mutter in das Schweigen hinein. »Was ist denn jetzt wieder?«
»Die Luft«, flüsterte Lucy und hasste ihre Stimme. »Die ist so schwer.«
»Hast du deinen Inhalator benutzt?«
Natürlich. Lucy war alt genug, um zu wissen, was sie tun musste, wenn sie einen Asthmaanfall bekam. Aber das meinte sie nicht mit schwer. »Sie erdrückt mich.« Da, es war noch schlimmer geworden. Lucy lag unter dem Gewicht der Nacht, versuchte in ganz kurzen Zügen zu atmen, damit der Sauerstoff im Zimmer länger
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