Zeit der Gespenster
zum Wagen zurückzugehen. Sie hatte gerade mal zwei Schritte geschafft, als Ross sie festhielt und umdrehte. »Sie«, sagte er mit wildem Blick, »bleiben schön hier.«
Meredith war sich jetzt ganz sicher, dass Ross Wakeman tatsächlich wahnsinnig war. Außerdem war er größer und stärker als sie und mit ihr und Lucy allein. Also verschränkte Meredith die Arme vor der Brust und gab sich tapfer. Sie wartete darauf, dass irgendein Geist erschien oder dass Ross endlich kapierte, dass es hier niemanden zu sehen gab.
Lucy zitterten die Knie so heftig, dass Meredith es regelrecht hören könnte. »Ganz ruhig«, sagte sie. »Das ist alles bloß fauler Zauber.«
Als Ross das hörte, wandte er sich langsam ab. Die qualvolle Trostlosigkeit in seinen Augen ließ sie schlucken. Was, wenn jemand sie so innig lieben würde? »Es … es tut mir leid«, murmelte sie.
Ross rannte förmlich über den Weg zurück aus dem Wald. Meredith folgte mit Lucy. Sie sagte sich, dass damit zu rechnen gewesen war. Ich bin nicht Lia , dachte sie. Ich bin es nicht.
Shelby zog sich gerade ihr T-Shirt über den Kopf, als sich ihr plötzlich die Nackenhaare sträubten. Sie lief zum Fenster und sah gerade noch, wie die Scheinwerfer eines Wagens ausgingen. »Ross«, flüsterte sie, und dann jauchzte sie auf und lief nach unten, um ihren Bruder zu begrüßen.
Vor dem Haus warf sie ihm die Arme um den Hals. »Gott sei Dank, du bist wieder da.«
Er lächelte. »Bei dem Empfang werde ich öfter wegfahren.«
Über seine Schulter hinweg sah Shelby eine Frau aus dem Wagen steigen. Und ein kleines Mädchen. »Shel«, sagte Ross und trat zur Seite: »Ich möchte dir Lia Pikes Enkelin vorstellen.«
»Das muss sich erst noch zeigen«, sagte die Frau, aber sie gab Shelby die Hand. »Meredith Oliver. Und das ist meine Tochter Lucy. Entschuldigen Sie, dass wir so spät hier aufkreuzen …«
»Das macht überhaupt nichts. Wir stehen gerade auf«, erwiderte Shelby. »Kommt alle mit rein.«
Ross ging voraus, dann brummte er: »Ich bin hundemüde«, und verschwand nach oben.
Shelby und Meredith waren beide gleichermaßen fassungslos ob dieser Unhöflichkeit. Als Shelby sich wieder gefangen hatte, beugte sie sich zu Lucy hinab. »Mein Sohn ist im Garten, durch die Tür da vorne. Er ist ungefähr so alt wie du. Willst du ihm nicht Hallo sagen?«
Lucy drückte sich an Meredith. »Na, geh schon«, drängte Meredith und schob ihre Tochter behutsam von sich weg. Die Kleine stakste zögerlich zur Tür.
»Lucy braucht immer ein Weilchen, bis sie auftaut«, erklärte Meredith.
Shelby war jetzt mit dieser Frau allein, die offensichtlich genauso ungern hier war wie ihre Tochter. »Hätten Sie, ähm, vielleicht Lust auf eine Tasse Kaffee?« Als sie ihnen beiden einschenkte, nahm Shelby Meredith über die Kanne hinweg genauer in Augenschein. Honigblondes Haar, kastanienbraune Augen … irgendwie kam sie ihr bekannt vor.
Meredith stand am Küchenfenster und sah zu, wie ihre Tochter sich draußen umsah. Etwas entspannter nahm sie Platz. »Glauben Sie auch an Geister?«, fragte sie.
»Ich glaube an meinen Bruder.«
Verdrossen blickte Meredith weg. »Es war schon etwas merkwürdig, müssen Sie wissen, dass Ihr Bruder so einfach aus dem Nichts auftaucht und mir sagt, ich müsste mit nach Vermont kommen.«
Shelby schob ihr ein Kännchen Sahne und eine Zuckerdose hin. »Manchmal ist man erst von etwas überzeugt, wenn man es mit eigenen Augen sieht.«
»Stimmt«, sagte Meredith. »Vor hundert Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass etwas mikroskopisch Kleines für die Körpergröße oder die Hautfarbe oder die Intelligenz eines Menschen verantwortlich ist – was heute niemand mehr bezweifelt.«
Dann können wir ja vielleicht in hundert Jahren Geister sehen , dachte Shelby. Doch stattdessen sagte sie höflich: »Haben Sie beruflich damit zu tun? Mit DNA-Forschung?«
»Nein, genauer gesagt, mit PID. Das bedeutet, Präimp…«
»Ich weiß, was das bedeutet«, fiel Shelby ihr ins Wort. »Ich hab mal …«
Sie brach ab, ließ den Löffel fallen, den sie in der Hand hielt. Vor ihrem inneren Auge sah sie plötzlich den Eintrag in ihrem Kalender, rot umkringelt: Dr. Oliver, Genetikerin . Der Termin war abgesagt worden, weil Dr. Oliver einen Abtreibungstermin hatte.
Shelby drehte den Kopf zum Fenster, zu den beiden Kindern im Garten. »Sie haben das Baby behalten«, flüsterte sie.
Meredith hob den Kopf. »Was haben Sie gesagt?«
»Schon gut«, sagte
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