Zeit der Gespenster
überlass die Entscheidungen mir.«
Az war daher nicht überrascht, als er einen Eindringling entdeckte. »He«, rief er, aber der Mann ging unbeirrt weiter. Az lief ihm nach – so gut er es noch mit seinen kaputten Hüften konnte –, und als er ihn eingeholt hatte, sah er, dass es ein stadtbekannter Trunkenbold war.
Abbott Thule hatte die meisten Leute überlebt, die in all den Jahren den Kopf geschüttelt hatten, wenn er irgendwo seinen Rausch ausschlief. Er war ein Halbblut, inzwischen über achtzig und hatte vier Ehefrauen gehabt, einmal sogar zwei zur selben Zeit. Falls Abbott überhaupt je gearbeitet hatte, so wusste Az jedenfalls nichts davon. »Herrgott, Abbott, das ist doch gefährlich hier«, schnaufte Az, fasste den Alten am Arm und zog ihn herum.
»Ich muss mit dir reden. Wegen so Zeug, das ich gehört hab.«
Az hatte wirklich keine Zeit, sich um einen Betrunkenen zu kümmern. »Geh doch rüber zu Winks, da kriegst du bestimmt ein Bett für die Nacht. Ich muss arbeiten.«
Aber Abbott rührte sich nicht vom Fleck. »Als ich klein war, musste meine Mom ins Krankenhaus. So eines, wenn man im Kopf krank ist. Eine Frau war zu uns gekommen, ich weiß nicht mehr, wie die hieß, und die hat gesagt, es wäre unchristlich, wenn man zwei Kinder von zwei verschiedenen Vätern hat und nicht verheiratet ist. Dann haben sie meine Mutter weggebracht, und mich und meine Schwester Carol, sie ruhe in Frieden, haben sie in verschiedene Besserungsanstalten gesteckt.« Er holte tief Luft. »Was ich sagen will, Az, ich hatte vier Frauen. Aber ich habe keine Kinder, es hat einfach nicht geklappt. Und ich frage mich …« Er sah auf, die Augen tränennass. »Haben die in der Anstalt vielleicht was mit mir gemacht, was ich nicht mehr weiß?«
»Abbott.« Az legte dem Alten die Hand auf die Schulter. »Komm, wir trinken eine Tasse Kaffee.«
Meredith wusste genau, in welchem Augenblick Ross’ Wagen die Stadtgrenze von Comtosook überfuhr, denn plötzlich war die Windschutzscheibe voller flatternder Schwammspinner. Als Ross die Scheibenwischer betätigte, um die Schmetterlinge zu verscheuchen, sah Meredith aus den Augenwinkeln, wie sich Lucy auf dem Rücksitz unter ihrem Sweatshirt versteckte.
Um Ruby kümmerte sich Tajmalla, die ein wenig beleidigt gewesen war, dass Meredith zuerst Bedenken geäußert hatte, ihre Großmutter – oder was immer sie war – in der Obhut einer städtischen Altenpflegerin zu lassen. Auf der Fahrt nach Norden hatte im Auto Schweigen geherrscht, nur unterbrochen von den Verkehrsdurchsagen im Radio.
Meredith sprach nicht mit Ross. Als sie zusammen im Starbucks gewesen waren, hatte sie den Rauch seiner Zigarette beobachtet und das Gefühl gehabt, er forme sich zu Buchstaben einer geheimen Botschaft. Sie hatte auf seiner Haut Vanille gerochen, und ihr war schwindelig geworden. Sie hatte aus seiner Kaffeetasse getrunken, als er mal zur Toilette gegangen war, hatte ihre Lippen auf die Stelle gelegt, die seine Lippen berührt hatten, damit ihre Sinne sich daran erinnern würden, wenn – nicht falls – sie ihn schließlich richtig schmecken würde.
Sie hatte sich lächerlich gemacht.
Nach all den katastrophalen Verabredungen mit Männern, die sie als interessant eingeschätzt hatte, löste ausgerechnet ein Typ, den sie nicht mal eines Blickes gewürdigt hätte, Gefühle bei ihr aus, wie es keinem vor ihm gelungen war. Auf den ersten Blick war Ross Wakeman ein Niemand. Doch wenn man genauer hinschaute, sah man seinen Humor, seinen Charme, seine Verletzlichkeit.
Und dass er rettungslos in eine andere Frau verliebt war, noch dazu eine tote.
»Und?«, sagte Meredith laut. »Sind wir da?«
Ross nickte. »Das ist Comtosook.«
Sie bogen von der Hauptstraße auf einen Schotterweg. Doch statt an einem der wenigen Häuser anzuhalten, fuhr Ross bis ans Ende durch und parkte den Wagen. »Wo sind wir?«, fragte sie.
Es war schon fast dunkel, der Himmel sah aus wie die glänzende Haut einer Aubergine. Meredith folgte Ross in den Wald. Sie war schließlich Wissenschaftlerin, sagte sie sich, und von Natur aus neugierig.
Mit Lucy dicht an ihrer Seite ging Meredith über Wurzeln und Steine und, wie es aussah, Bauschutt. Plötzlich öffnete der Wald sich, und sie sah eine große, kahle Fläche, die mit Plastikband abgesperrt war. »Hier wohnen Sie?«
Ross murmelte etwas, das sich anhörte wie: Schön wär’s .
Plötzlich wusste Meredith, wo sie war. »Ach, verdammt«, seufzte sie und nahm Lucys Hand, um
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