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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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eigentlich, wo ich überall nach dir gesucht habe, weil du es nicht für nötig gehalten hast, mir einen Zettel hinzulegen, wann du die Güte haben würdest, wieder aufzutauchen?«
    »Wir waren auch unter dem Highway«, warf Ethan ein. »Da lag eine tote Möwe.«
    Shelbys Gesicht war rot angelaufen. »Ja, stimmt. Unter dem Highway. Du weißt schon, nur für den Fall, dass du vielleicht auf die Idee gekommen wärst, von der Brücke zu springen.« Shelby hatte Tränen in den Augen.
    »Wahrscheinlich ist es albern von mir zu denken, dass die Menschen, die mir etwas bedeuten, mich zumindest davon in Kenntnis setzen, dass sie nicht irgendwo tot im Straßengraben liegen.« Sie wischte sich über die Augen. »Freut mich, dass du dich nicht umbringst, Ross, aber wenn du so weitermachst, bringt mich das bestimmt noch um.«
    »Weißt du was?«, sagte Ethan und zupfte Ross am Ärmel. »Die Möwe hatte ein ausgehacktes Auge.«
    »Hör auf, dir Sorgen um mich zu machen, ja? Ich hab dich schließlich nicht darum gebeten«, sagte Ross.
    »So was kann man sich nicht aussuchen.«
    »Dann mach dir um jemanden Sorgen, bei dem es angebracht ist.«
    »Willst du damit sagen, bei dir wäre es nicht angebracht?«
    »Nicht so wie bei dir«, konterte Ross. »Menschenskind, Shel, du lebst wie eine Nachteule. Du hast dich außer von Ethan von allen Menschen abgeschottet. Nie kommt eine Freundin auf eine Tasse Kaffee vorbei, Männerbekanntschaften hattest du schon seit einer Ewigkeit nicht mehr … Herrgott, der Papst erlebt mehr als du. Du bist zweiundvierzig und lebst wie eine Siebzigjährige.«
    Sie würde nicht die Fassung verlieren, nicht mitten in der Notaufnahme, nicht vor Ross und vor allem nicht vor Ethan. »Bist du fertig?«
    Ross nahm die Hand seiner Schwester und wartete, bis sie schließlich zu ihm aufsah. »Shelby. Ich werde mich nicht umbringen. Versprochen.«
    »Das hast du schon mal versprochen, Ross«, flüsterte sie. »Und damals hast du gelogen.«
    Nach Aimees Tod hatte Shelby genau gespürt, dass ihr Bruder nicht wieder ins Leben zurückfand. Sie hatte verzweifelt versucht, ihm zu helfen, hatte schließlich einen Termin bei einem Psychiater für ihn vereinbart. Nach der Therapiesitzung hatte Ross ihr erzählt, wie gut es gelaufen sei, und hatte sich sogar bei ihr bedankt. Als Shelby ihren Bruder dann wenige Tage später halb verblutet fand, hatte er noch eine Entschuldigung gehaucht, bevor er das Bewusstsein verlor.
    Wie sich herausstellte, war er zu dem Termin beim Psychiater gar nicht erschienen.
    »Verrat mir mal«, sagte sie, »wieso ich dir jetzt glauben soll.«
    Ross wandte den Blick ab, starrte auf ein Plakat, das zu Organspenden aufrief. Dann begann er, ihr eine Geschichte zu erzählen, von einer Frau, die verschwunden war. Verängstigt … zerbrechlich … schön … wissbegierig : Ross türmte Adjektive aufeinander, und plötzlich war es, als hätte diese Lia Beaumont zitternd zwischen ihnen stehen können.
    Ein Wort ließ Shelby aufhorchen. »Verheiratet?«, wiederholte sie.
    »Sie hat Angst vor ihm.«
    »Ross …«
    Er schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so, wie du denkst«, sagte er. Shelby wusste, dass er log, sie war nur nicht sicher, ob Ross sich selbst darüber im Klaren war. »Ich mache mir Sorgen um sie. Sie weiß nicht, wohin. Sie will da raus, aber sie weiß nicht, wie. Ich … ich habe Angst, sie tut sich was an.«
    Und wie gefällt dir das?, dachte Shelby, doch bevor sie es aussprechen konnte, bemerkte sie den Gesichtsausdruck ihres Bruders. Wie gut kannte sie diesen Ausdruck doch von sich – beim Anblick der Sonne oder von Ethans abgespanntem, schlafendem Gesicht. Er hat sich in sie verliebt , dachte Shelby, und das ändert gar nichts .
    Ihre Stimme wurde sanft. »Ross, du kannst sie nicht alle retten.«
    Er wich zurück, als hätte Shelby ihn erneut geohrfeigt. »Nur ein Mal«, sagte er leise. »Ein einziges Mal wäre doch schön.« Dann wandte er sich ab und stürmte aus dem Krankenhaus.

    Lucy schlief viel. Manchmal träumte sie, dass sie schlief, und sie sah sich selbst im Bett liegen. Manchmal träumte sie, dass sie verfolgt wurde, aber ihre Beine konnten sich nicht schnell genug bewegen. Einmal träumte sie, ein Riese hätte sie gefressen, und sie hätte sich einfach in einem seiner hohlen Backenzähne zusammengerollt und nur noch geschlafen.
    Sie schrie noch immer im Schlaf, aber ihre Kehle war zu müde, um den Schrei auszustoßen.
    Ab und zu erklangen Stimmen, schneidend wie ein Messer.

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