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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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genau Spencer in seinem Vortrag ansprechen soll.
    »Ich weiß nicht, Harry«, sagt Spencer, »im letzten Jahr haben wir das mit den Stammbäumen doch eigentlich aufgegeben.«
    Die Entscheidung, die Stammbaumkarten nicht länger als Hauptwerkzeug für die Eugenik-Bewegung in Vermont einzusetzen, wurde getroffen, nachdem drei einflussreiche Parlamentsmitglieder, ohne deren Stimmen das Sterilisationsgesetz nicht hätte verabschiedet werden können, auf den Karten aufgetaucht waren, und zwar als Nachfahren der degeneriertesten Familien im ganzen Staat.
    »Spencer, wir haben getan, was notwendig war, um das Sterilisationsgesetz nicht zu gefährden. Aber damit ist jetzt Schluss. Wir sollten uns wieder der Basisarbeit zuwenden.« Mein Vater nimmt mir einen Orangenschnitz aus der Hand und schiebt ihn sich in den Mund. Dann hält er Spencer den Finger unter die Nase. »Riechst du das? Du siehst es nicht mehr … aber du weißt, dass es da war. Du musst die Karten nicht zur Sprache bringen, wenn du nicht willst. Meinetwegen verbrenn sie, wenn du dich dann besser fühlst. Aber jeder im Saal erinnert sich noch an unsere Arbeit vor fünf Jahren, als wir diese Familien erfasst haben. Jeder wird wissen, was du nicht aussprichst.« Dann geht er aus dem Zimmer.
    Spencer betrachtet die Karte. »Was meinst du dazu?«, fragt er mich, und ich falle fast vom Stuhl. Dass ich nach meiner Meinung gefragt werde, bringt mich so aus der Fassung, dass ich kaum die richtigen Worte finde. Ich denke an die Zigeunerin, der man den Sohn weggenommen hat. An Gray Wolf, der allein aufgrund meiner Hautfarbe dachte, ich wäre gekommen, um sein Leben zu ruinieren.
    »Ich denke, dass der Schaden bereits angerichtet ist«, erwidere ich. Da dringen durch die offene Tür Spencers Name und donnernder Applaus.
    Wenn fünfhundert Menschen auf einmal applaudieren, klingt das, als würde die Erde um einen herum aufbrechen. Spencer rollt die Stammbaumkarte, die vor ihm auf dem Tisch liegt, zusammen, schiebt sie sich unter den Arm und geht hinaus in den Vortragssaal. »Ladys und Gentlemen«, beginnt er, und ich muss nicht weiter hinhören, weil ich weiß, was er sagen wird.
    Ich stehe auf und gehe nach draußen, die Treppe hinunter.
    »Gehen wir spazieren«, schlage ich Ruby vor.

    Die Hölle kann nicht viel anders sein als New York im Sommer. Der Schweißgestank vermischt mit dem Geruch der Salzlake in den Gurkenfässern der Straßenverkäufer, das Gedränge von Hunderten von Menschen, die Zeitungsjungen, die für fünf Cent Tragödien verkaufen, die Auspuffgase, die wie Gespenster aufsteigen. Es ist eine Unterwelt. Und es gibt eine Menge Leute, die dir angeblich einen Notausgang zeigen können. In meinem Fall ist es das kleine Mädchen, das mit seiner Mutter unter einer Wagenplane wohnt und sich meinen Dollarschein zusammengerollt wie eine Zigarette hinters Ohr steckt. Die Kleine führt Ruby und mich zu einem Sandsteinhaus drei Straßen weiter. Ein kleines Schild hängt über der Tür: HEDDA BARTH, MEDIUM.
    Die Frau, die uns die Tür öffnet, ist sogar noch kleiner als Ruby und hat langes weißes Haar. »Wir würden gerne eine spirituelle Sitzung abhalten, mit Ihrer Hilfe«, sage ich.
    »Aber Sie sind nicht angemeldet.«
    »Nein.« Sie mustert mich, dann tritt sie zur Seite und lässt uns herein.
    Sie steigt vor uns eine kleine Treppe hinauf und streckt die Hand nach der Wohnungstür aus, die von allein aufschwingt.
    Ein sechseckiger Tisch wartet im Dunkeln auf uns. »Da wäre noch die Kleinigkeit der Bezahlung zu klären«, sagt Hedda.
    »Der Preis«, entgegne ich, »spielt keine Rolle.«
    Also fordert Hedda uns auf, Platz zu nehmen und uns an den Händen zu fassen. Sie mustert prüfend mein Gesicht und das von Ruby. »Sie haben beide jemanden verloren«, erklärt sie. Aber das hätte jeder erraten können, wieso wären wir sonst gekommen?
    Plötzlich jedoch beginnt der Tisch zu beben und zu schwanken, hebt zwei Beine wie ein sich aufbäumendes Pferd. Hedda verdreht die Augen, und ihr Mund klafft auf. Ich blicke unsicher zu Ruby hinüber, weiß nicht, ob das normal ist.
    » Ma poule .« Die Stimme ist höher als die von Hedda. Das Herz pocht mir im Gaumen, und das Baby strampelt, als wolle es sich befreien.
    »Simone?«, fragt Ruby leise, verstört. Jetzt wird mir klar, wo ich diesen Tonfall schon mal gehört habe – bei Ruby, wenn sie manchmal unwillkürlich in ihr Frankokanadisch fällt.
    »Chérie, sag deiner Freundin, dass sie keine Angst haben muss, nein.

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