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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Wir warten hier schon alle auf sie.«
    »Das ist meine Schwester«, sagt Ruby fassungslos. »Simone. Sie ist die Einzige, die mich so genannt hat – ma poule . Mein Hühnchen.«
    Die Schwester, die an Diphtherie gestorben ist.
    Plötzlich erschlafft das Baby in mir. Meine Arme sinken herab, meine Sorgen lösen sich auf der Zunge auf. So müssen Menschen sich in dem Augenblick fühlen, bevor ihr Automobil gegen einen Baum prallt. Es ist das weiße Licht, von dem so oft geredet wird; es ist die nahende Stille.
    Es ist etwas, das meine eigene Mutter gefühlt hat.
    Ich habe so viele Fragen – Werde ich je meinen Sohn sehen, oder ist das zu viel verlangt? Wird er sich an mich erinnern? Wird es wehtun? Werde ich es wissen, wenn es passiert? Doch im Moment genügt mir die Bestätigung, genügt es mir zu wissen, dass meine Instinkte mich nicht getrogen haben.
    Madame Hedda kommt aus ihrer Trance. Ein Speichelfaden hängt ihr aus dem Mund. Ich lege einen Zehndollarschein auf den Tisch. Spencer werde ich erzählen, ich hätte ihn verloren. »Komm zurück«, sagt sie, und ich weiß, sie meint, von der anderen Seite.

    Wir wissen, was Schwachsinnigkeit ist, und wir vermuten, dass alle Menschen, die unfähig sind, sich ihrer Umwelt anzupassen und gesellschaftliche Konventionen zu respektieren oder vernünftig zu handeln, schwachsinnig sind.
    Henry Goddard, Schwachsinnigkeit: Ursachen und Folgen . 1914

    Am Ende möchte ich es an einem vertrauten Ort machen. Auf der langen Zugfahrt zurück nach Hause denke ich darüber nach. Ich bin fast trunken von dem, was kommen wird. »Ich hab’s gewusst«, sagt Spencer zu meinem Vater. »Ich hab gewusst, dass die Reise ihr guttut.«
    Als wir zu Hause ankommen, ist es fast Mitternacht. Spencer öffnet die Tür zu unserem Haus, und es klingt, als würde ein Siegel aufgebrochen.
    »Ruby, du kannst morgen auspacken«, sagt Spencer, als wir die Treppe hinaufsteigen. »Liebling, du auch. Du gehörst ins Bett.«
    »Ich brauche ein Bad«, wende ich ein. »Ein paar Minuten allein, um zu entspannen.«
    Sogleich dreht Ruby sich langsam um. Ihr Mund ist zu einer Frage gerundet. »Du hast gehört, was der Professor gesagt hat«, sage ich schroff. Nach Wochen der Kameradschaft sind diese kalten, schneidenden Worte eine Waffe, um sie zu vertreiben. Sie eilt die Stufen hinauf in die Dienstbotenkammer, den Kopf eingezogen, unfähig zu begreifen, was uns so plötzlich entzweit haben mag.
    Im Schlafzimmer nehme ich ein ordentlich gefaltetes Nachthemd und einen Bademantel aus dem Schrank. Dann warte ich vor der Badezimmertür, bis Spencer herauskommt. »Ich hab dir Wasser einlaufen lassen«, sagt er und blickt mitleidig lächelnd auf meinen Bauch. »Bist du sicher, dass du alleine wieder aus der Wanne kommst?«
    Ich präge mir die Linien seines Lächelns ein, die Landschaft seiner Schultern. All die Gründe, warum ich mich in Spencer verliebt habe. »Mach dir keine Sorgen um mich«, sage ich schließlich, und ich meine das auf ewig.
    Das Haus kommt allmählich zur Ruhe: Zunächst knarren noch die Wände und Dielenbretter, die Decke seufzt, dann wird alles still. Das Badezimmer ist voller Dampf. Ich entkleide mich, und der warme Nebel legt sich auf meine Haut. Mein Herz schlägt so schnell, dass ich schon meine, ich könnte es unter der Haut sehen – aber als ich nachschauen will, ist der Spiegel beschlagen. Anstatt ihn abzuwischen, presse ich die Hände auf die Scheibe, hinterlasse einen Abdruck. Mit einem Finger schreibe ich ein einziges Wort: H … I … L … F …E. Ich stelle mir vor, was geschehen wird, wenn man mich findet, reglos und weiß wie eine Marmorstatue. Ich male mir aus, dass alle nur Gutes über mich sagen, dass sie mich voller Mitleid und Liebe betrachten.
    Um ein Uhr morgens ist das Badewasser kalt. Ich habe die Beine rechts und links von meinem gewölbten Bauch angewinkelt, die Handgelenke auf den Knien. Spencers aufklappbares Rasiermesser liegt auf dem Wannenrand.
    Ich nehme es behutsam in die Hand und ziehe knapp unterhalb des Ellbogens eine Linie. Blut quillt hervor, und ich tauche meinen Finger hinein, verreibe es auf meinem Mund wie Lippenstift. Es schmeckt klebrig, salzig, metallisch. Es wundert mich nicht, dass ich bis ins Innerste bitter geworden bin.
    Als der offene Schnitt nicht mehr schmerzt, setze ich die Klinge wieder an, einen Zentimeter tiefer. Zwei parallele Linien. Mein Leben und das meines Sohnes. Sie werden ihn aus meiner Schale befreien, und es wird ein besseres Leben

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