Zeit der Gespenster
Eugenics Society:
Ein eugenischer Katechismus, 1926
Es vergeht eine ganze Woche, bis Spencer mich mit Ruby allein im Haus lässt, weil er unbedingt wieder zur Universität muss. »Du weißt ja, du kannst mich jederzeit anrufen«, sagt er.
Ich blicke von der Weißbrotscheibe auf, die ich gerade mit Butter bestreiche. »Ja.«
»Vielleicht können wir heute Nachmittag zusammen ein Eis essen gehen. Wenn dir danach ist.« Das ist Spencers Art, mir zu sagen, dass ich noch am Leben sein soll, wenn er nach Hause kommt. »Also dann.« Er sieht so gut aus in seinem leichten Anzug, mit dem nach hinten gekämmten Haar und der Fliege, die so gerade hängt wie Justitias Waagschalen. Ich weiß, dass er das Buttermesser in meiner Hand anstarrt und sich fragt, ob es Schaden anrichten kann. Vor seinen Augen lecke ich die stumpfe Klinge ab, nur um seine Reaktion zu sehen.
»Ich schicke dir Ruby«, sagt er und flüchtet.
Ruby, die mir tunlichst aus dem Weg geht, kommt in die Küche geschlichen, als Spencers Wagen die Einfahrt hinunterrollt. »Miz Pike«, sagt sie.
»Miss Weber.«
»Wenn Sie meine Freundin wären«, platzt Ruby heraus, »hätten Sie mir gesagt, dass Sie das tun würden.« Ihre Augen starren auf mein verbundenes Handgelenk.
»Aber dann hättest du mich logischerweise daran gehindert«, antworte ich leise.
Lärm von draußen bewahrt mich davor, noch mehr sagen zu müssen. Wir treten aus der Hintertür, um nachzusehen, was los ist, aber dort sind nur zwei Libellen zu sehen, die sich gegenseitig jagen.
Wir wollen uns schon umdrehen, da sehe ich, dass die Tür zum Eishaus nur angelehnt ist. Das kleine Nebengebäude stammt noch aus der Zeit meiner Großmutter. Alle paar Tage bekommen wir Eisblöcke geliefert, die im Winter aus dem Lake Champlain geschnitten wurden. Sie werden in der kleinen Scheune in Sägemehl gepackt, und wir schlagen das Eis für den Eisschrank in der Küche davon ab. Spencer achtet peinlich genau darauf, dass die Tür geschlossen bleibt. Ruby holt wortlos die alte Flinte aus der Vorratskammer.
»Bleib hier«, sage ich, aber Ruby hört nicht auf mich. Wir gehen mit der Flinte zum Eishaus und schlüpfen hinein, warten, bis unsere Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt haben. Ich habe viel Zeit im Dunkeln verbracht. Ich spüre, dass da ein dritter Körper im Raum ist. »Rauskommen«, rufe ich, tapferer, als mir zumute ist.
Nichts.
»Ich habe gesagt, rauskommen !« Mit dem Mut der Verzweiflung hebe ich die Flinte und schieße auf einen der Eisblöcke. Er explodiert regelrecht. Ruby kreischt auf, und links hinter mir ruft ein Mann: »Verdammt!«
Gray Wolf kommt aus seinem Versteck, die Hände erhoben wie im Film. In seinem Gesicht spiegeln sich seltsamerweise Stolz und Schrecken zugleich.
»Was machen Sie denn hier?« Jetzt, wo es vorüber ist, zittern mir die Hände. »Ist schon gut«, beruhige ich die verängstigte Ruby. »Ich kenne ihn.«
»Sie kennen ihn?« Ruby klappt der Mund auf.
Ich antworte ihr nicht. In diesem Moment ist mir nur eines wichtig: Ich möchte ihm beweisen, dass ich nicht so bin, wie er mich bei unserer letzten Begegnung eingeschätzt hat.
»Gray Wolf«, sage ich, »das ist Ruby. Ruby, Gray Wolf.«
»Ich geh den Professor anrufen«, murmelt Ruby halblaut.
Ich halte sie am Arm fest. »Nein.«
Aber sie lebt schon eine Weile im Haus eines Eugenikers. Und ihre frankokanadische Abstammung ist bei Weitem nicht so bedenklich wie die eines Zigeuners. »Miz Pike«, sagt sie, und ihre Augen gleiten zu seinem Gesicht. »Er ist … er ist …«
»Hungrig«, führe ich den Satz zu Ende. »Würdest du uns bitte etwas aus der Küche holen?«
Sie schluckt, nickt und geht zum Haus. Als wir allein sind, hebt Gray Wolf meinen Arm und fährt mit dem Finger über die Spirale des Verbandes. »Sie sind verletzt.« Ich nicke. »Ein Unfall?«
Ich schaue weg und schüttele den Kopf.
Er betrachtet weiter die Mullbinde, ist sichtlich aufgebracht. »Ich habe Ihnen etwas mitgebracht, das Sie schützen soll. Aber ich komme wohl zu spät.«
Er holt einen Lederbeutel aus der Tasche, der an einem langen Lederriemen hängt. Er riecht schwach nach Sommer – und nach ihm. »Schwarzesche, gemahlener Schierling, gelber Frauenschuh.« Gray Wolfs Augen huschen zu meinem Bauch. »Für euch beide.« Er streift mir den Riemen über den Kopf, und ich merke, wie ich mich ihm zuwende, wie das Leder meine Haut wärmt. » Kizi Nd’aib nidali .«
»Was bedeutet das?«
»›Ich weiß, wie das
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