Zeit der Gespenster
ist.‹«
Ich blicke in Gray Wolfs Gesicht, und ich glaube ihm. Dieser Mann weiß, wie es ist, an einem Ort gefangen zu sein, der ihn töten kann, falls er es nicht selbst tut. Ich lese es in seinen Augen – schwarz, die Farbe, die übrig bleibt, wenn alle anderen Farben der Welt untergehen.
»Was heißt ›Danke‹?«, frage ich.
» Wliwni .«
»Also dann: wliwni .« Ich berühre den Perlenbesatz auf dem Beutel, eine kunstvolle Schildkröte. »Woher wussten Sie, wo Sie mich finden können?«
Er muss lächeln. »In Burlington weiß doch jeder, wo Ihr Mann wohnt.«
»Sie haben die Mokassins für mich auf die Veranda gelegt.«
»Ich habe sie für das Baby dorthin gelegt.«
»Sie hätten nicht kommen sollen«, sage ich.
»Warum nicht?«
»Spencer wird das nicht gefallen.«
»Ich bin nicht seinetwegen hier, Lia«, erwidert Gray Wolf. »Ich bin Ihretwegen hier.«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, doch in dem Moment kommt Ruby mit einem Tablett mit Limonade und Gebäck aus dem Haus. Als ich auf sie zugehe, spüre ich den Medizinbeutel an meinem Körper. Gray Wolf und ich sind die einzigen Menschen auf der Welt, die wissen, dass er da ist. Ich frage mich, wieso er mich schon zweimal Lia genannt hat, wo ich mich ihm doch gar nicht so vorgestellt habe.
Erste Statistiken zeigen, dass die Bevölkerung von Vermont einen Höchststand an körperlichen und geistigen Defekten aufweist. Man vermutet, dass dies mit dem hohen frankokanadischen Bevölkerungsanteil zusammenhängt.
H. F. Perkins: Projekt Nr. 1, EEV-Archiv, 1926
Irgendwie weiß Gray Wolf, wann er kommen kann. Wenn Spencer eine Vorlesung hat und Ruby Einkäufe macht, sitzt er plötzlich auf meiner Veranda. Er tritt hinter einem Baum hervor, wenn ich einen Abendspaziergang im Wald mache. Wenn er nicht selbst kommt, finde ich weitere Geschenke: ein Weidenkörbchen, einen kleinen Schneeschuh, die Zeichnung eines galoppierenden Pferdes. Wenn wir zusammen sind, frage ich mich, wo er mein Leben lang gesteckt hat.
Ich weiß sehr wohl, dass ich das nicht fördern sollte. Er kommt vom rauen Rand der Gesellschaft, ich bin in ihrer festen Mitte aufgewachsen. Er ist dunkel und ruhig und völlig anders als ich, und genau deshalb sollte ich ihn auf Distanz halten. Aber genau deshalb bin ich auch so fasziniert von ihm.
Wenn man durch die Straßen von Burlington geht, kann man Menschen aller Schattierungen sehen – Iren, Italiener, Zigeuner, Juden –, aber alle, die so aufwachsen wie ich, lernen Scheuklappen zu tragen. Man registriert nur die Menschen, die so aussehen wie man selbst.
Was würde Spencer wohl sagen, wenn er wüsste, dass der Mensch, mit dem ich mich am meisten identifiziere, ein Zigeuner ist, jemand, der genauso wenig in diese Welt passt wie ich?
Heute werde ich Gray Wolf nicht sehen, und ich bin enttäuscht. Ich werde tagsüber nicht zu Hause sein, sondern muss zum monatlichen Treffen des Klifa Club. Das ist der angesehenste Damenclub in Burlington; aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung versteht sich meine Mitgliedschaft von selbst.
Ich lausche zwei Stunden lang einer Harfenistin und weitere zweieinhalb Stunden dem langatmigen Vortrag eines Botanikers über Gärten und Parks in Italien. Ich quäle mich durch Limonaden und Kanapees, während andere Frauen mir sagen, was ich schon weiß – dass es ein Junge wird. Ich schleiche mich die Treppe hinunter, als die Damen die Veranstaltung im kommenden Monat besprechen.
Unter der grünen Markise wartet Gray Wolf auf mich, als wären wir verabredet. Ich bin ein klein wenig erschrocken, dass er mich sogar hier in der Stadt gefunden hat, doch er hebt nur die dunklen Augenbrauen und bietet mir eine Zigarette an. Wir spazieren gemeinsam weiter. Zunächst spricht keiner von uns. Es ist nicht nötig.
»Der Klifa Club«, sagt er schließlich.
»Ja.«
»Wie ist es da so?«
»Natürlich prachtvoll. Und sehr exklusiv.«
Er lacht.
Als wir zu einer Straßenkreuzung kommen und er meinen Ellbogen umfasst, erstarre ich. Wir haben uns zwar schon häufig getroffen, aber berührt hat Gray Wolf mich noch nie. Er bemerkt meine Anspannung, lässt mich los.
»Sie nennen mich Lia«, sage ich. »Warum?«
Er zögert. »Weil Sie nicht aussehen wie eine Cissy.«
»Wie würde mein Name in Ihrer Sprache klingen?«
Er schüttelt den Kopf. »Meine Sprache spricht niemand mehr.«
»Aber Sie tun es.«
»Nur weil ich nichts mehr zu verlieren habe.« Er sieht mich kurz an. »Man kann nicht jedes beliebige Wort in
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