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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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meiner Schule war ein Indianer. Linwood … meine Güte, ich weiß doch tatsächlich noch seinen Namen! Der Junge war ein Indianer wie aus dem Bilderbuch. Mit Zöpfen und allem. Natürlich wollten wir Jungs damals alle Cowboy und Indianer spielen. Und dieser Linwood konnte Fallen stellen und jagen und mit Pfeil und Bogen schießen. Was sage ich, er konnte einen Schießbogen bauen .« Bewunderung schwingt in der Stimme meines Vaters. »Er trug Mokassins zur Schule«, sagt er müde. »Er hat alle möglichen Sachen gemacht, die wir anderen nicht durften.«
    Ich frage mich, ob etwas so Simples sich vielleicht im Kopf meines Vaters festgesetzt und ihn überhaupt erst zur Eugenik gebracht haben könnte. Eine zufällige Begegnung, die damals ganz unwichtig war, im Laufe der Zeit aber eine ungeheure Bedeutung angenommen hat. Man denkt nicht lange über die Mokassins eines Indianerjungen nach, die man selbst so gerne gehabt hätte, aber vielleicht vergisst man sie nie.
    Ich studiere sein Gesicht. »Wie war das mit Mama? Kannte sie irgendwelche Indianer?«
    Das Licht in den Augen meines Vaters erlischt. »Nein«, antwortet er. »Sie hatte Todesangst vor ihnen.«

    Styla Nestor, eine angeheiratete Kusine von Gray Wolf Delacour, bringt seine regelmäßigen Alkoholexzesse und seinen unsittlichen Lebenswandel mit dem unsteten Zigeunerleben in Verbindung, das höchstwahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass Aufseher und Bürger ihn loswerden wollten. Die einzige halbwegs dauerhafte Adresse, die ihr Vetter ihrer Erinnerung nach jemals hatte, war das Staatsgefängnis.
    Aus den Akten von Abigail Alcott, Sozialarbeiterin

    Die Mittagssonne kitzelt mich am Hals. Ich fahre im Bett hoch, sehe auf den Wecker und bin erschrocken. Wieso hat Ruby mich nicht längst geweckt?
    Das stete Klopfen des Hammers über meinem Kopf verrät mir, dass Gray Wolf schon auf dem Dach arbeitet, und es gibt so vieles, das ich ihn fragen möchte.
    »Kaffee?«, fragt Ruby, als ich in die Küche komme.
    »Jetzt nicht.«
    »Miz Pike …«, setzt sie an, doch ich bin schon zur Hintertür hinaus.
    Ich schirme die Augen mit der Hand ab. »Gray Wolf?«, rufe ich und stolpere rückwärts, als das Gesicht meines Mannes über dem Dachrand auftaucht. »Spencer, was machst du denn da?«
    »Die Arbeit zu Ende bringen, die ich von vornherein selbst hätte erledigen sollen.« Er schiebt den Hammer in die Schlaufe hinten an seinem Gürtel und steigt vorsichtig die Leiter hinunter. »Ich hab ihn rausgeschmissen«, sagt er, als er vor mir steht.
    »Was … was hat er angestellt?«
    »Was hat er nicht angestellt, Cissy?« Spencer zieht ein Blatt Papier aus der Tasche. Es ist der Durchschlag eines fast zwanzig Jahre zurückliegenden Gerichtsurteils, in dem es heißt, dass John »Gray Wolf« Delacour wegen Mordes für schuldig befunden und für fünfundzwanzig Jahre hinter Gitter geschickt wurde. Ein zweites Blatt ist daran geheftet – seine Entlassung auf Bewährung aus dem Staatsgefängnis, datiert auf den vierten Juli dieses Jahres.
    »Mein Gott, er war mit dir und Ruby hier allein!«

    John »Gray Wolf« Delacour ist angeblich ein Enkel von Missal Delacour, der alten Zigeunerin. John ist nicht ganz so dunkel wie seine Vorfahren, aber er hat den lockeren, schlurfenden Gang eines Zigeuners. Seine eigenen Verwandten halten ihn für hochnäsig, ungebildet und unmoralisch, wenngleich er Lesen und Schreiben gelernt hat. Wer sich für Evolution interessiert, müsste John Delacours Stammbaum nicht sehr weit zurückverfolgen, um auf das Missing Link zu stoßen.
    Aus den Aufzeichnungen von Abigail Alcott, Sozialarbeiterin

    Es fällt mir alles so erstaunlich leicht – der erfundene Arzttermin zur Schwangerschaftsuntersuchung, die hastige Fahrt in die Stadt, die Abzweigung, die mich zum Lager am Seeufer bringt.
    Als ich diesmal durch das Labyrinth von Zelten gehe, fallen mir die Farben auf. Eine Frau schüttelt einen leuchtend gestreiften Seidenmantel aus. Einige Zelte weiter hockt eine Alte auf einem Stuhl und befestigt einen dünnen Eschengriff an einem Korb. Eine scheckige Katze spielt zu ihren Füßen; ein knallgelber Kanarienvogel hockt auf ihrer Schulter. Männer packen ihre Waren zum Verkauf in bunte Kisten, laden sie für die nächste Fahrt zum Bauernmarkt ein. Im Vergleich dazu kommt mir mein Leben farblos und blass vor.
    Als ich auf die Korbflechterin zugehe, tut sie so, als sähe sie mich nicht. »Entschuldigung«, sage ich. Ihre Katze maunzt und läuft weg. »Ich

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