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Zeit der Gespenster

Zeit der Gespenster

Titel: Zeit der Gespenster Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Alnôbak übersetzen.« Gray Wolf deutet mit dem Kinn auf die Brosche an meiner weißen Bluse, eine kleine Uhr. »Das zum Beispiel heißt papizwokwazik . Aber das bedeutet nicht Uhr. Es ist ›das Ding, das tickt‹. Ein Biber kann ein tmakwa sein – ein Holzfäller – oder ein abagôlo – Flachschwanz – oder ein awadnakwazid – der Holzschlepper … je nachdem, wie man ihn sieht.«
    Mir gefällt die Vorstellung, dass ein Name sich von Fall zu Fall ändern kann. » Awadnakwazid «, wiederhole ich genüsslich. »Ich wünschte, ich hätte einen Namen wie Gray Wolf.«
    »Dann geben Sie sich selbst einen. Ich hab’s getan.« Er zuckt die Achseln. »Mein Geburtsname ist John … Azo. Aber Gray Wolf passt besser zu mir.«
    Wir sind inzwischen auf die belebte College Street eingebogen. Ich weiß genau, dass die Mutter, die mit ihrer Tochter spazieren geht, und der Geschäftsmann mit seinem Elfenbeinstock und die beiden jungen Soldaten nicht verstehen, was jemand wie ich mit jemandem wie Gray Wolf zu schaffen hat. Ich frage mich, wer uns sonst noch alles sieht.
    »Früher bin ich manchmal im Haus meines Vaters auf das Dach geklettert und hab überlegt, ob ich springen soll«, sage ich. »Einmal bin ich tatsächlich gesprungen. Und hab mir prompt den Arm gebrochen.«
    »Warum wollten Sie springen?«
    Das hat mich noch nie jemand gefragt. »Weil ich es konnte.« Ich bleibe stehen, und die Passanten müssen uns ausweichen. »Geben Sie mir einen Namen.«
    Er sieht mich lange an. » Sokoki «, sagt er. »Die ausgebrochen ist.«
    Plötzlich höre ich hinter mir jemanden rufen. »Cissy?« Spencers Stimme. »Bist du das?«
    Vielleicht wollte ich ja ertappt werden, vielleicht habe ich damit gerechnet. Aber als Spencer vor Gray Wolf steht, zittern mir die Knie. Ich würde hinfallen, wenn Spencer mich nicht auffangen würde.
    »Liebling?«
    »Mir ist nur ein bisschen schwindelig nach dem Klifa Club.«
    Spencer wirft Gray Wolf einen herablassenden Blick zu. »Geh weiter, Häuptling.«
    »Ich bin kein Häuptling.«
    Mit klopfendem Herzen greife ich in meine Handtasche und hole einen Dollarschein heraus. »Also gut«, mische ich mich ein, als hätten Gray Wolf und ich um etwas gefeilscht. »Aber mehr zahle ich nicht dafür.«
    Er spielt mit, aber Enttäuschung verdunkelt seine Augen. »Danke, Ma’am.« Er gibt mir etwas Kleines, um das ein Taschentuch gewickelt ist. Dann verschwindet er zwischen den vielen Menschen.
    »Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht mit Bettlern sprechen«, sagt Spencer und nimmt meinen Arm.
    »Es ist christliche Barmherzigkeit«, murmele ich.
    »Was hat er dir denn angedreht?«
    Ich luge zwischen die Falten des Taschentuchs, und schon wird mir wieder schwindelig. »Billigen Schmuck«, sage ich und stopfe das Miniaturporträt in meine Tasche, bevor Spencer das Gesicht erkennt. Es ist das gleiche wie auf dem Bild, das auf meiner Frisierkommode steht und mir helfen soll, das Aussehen meiner Mutter nicht zu vergessen.

    Das Gerät aus dem Traum spüre ich förmlich noch, ein TriField EMF-Messgerät, das ein Mann mit langen Haaren bedient.
    Die andere Seite des Bettes ist leer. Ruhelos gehe ich ins Bad und spritze mir Wasser ins Gesicht. Dann gehe ich nach unten und suche Spencer.
    Er ist in seinem Arbeitszimmer. Nur die Lampe mit dem grünen Glasschirm auf seinem Schreibtisch brennt. Einige Stammbaumkarten sind auf dem Dielenboden ausgerollt wie alte Straßen, und durch das offene Fenster dringen die Rufe der Ochsenfrösche. Als er den Kopf hebt, sehe ich, dass er betrunken ist.
    »Cissy. Wie spät ist es?«
    »Nach zwei.« Ich mache ein paar Schritte auf ihn zu. »Komm doch ins Bett.«
    Er vergräbt das Gesicht in den Händen. »Wieso bist du wach geworden?«
    »Die Hitze.«
    »Hitze.« Spencer nimmt sein Glas und leert es. Eine Ameise krabbelt über den Schreibtisch. Er zerquetscht sie mit dem Boden des Whiskyglases.
    »Spencer?«
    Er wischt das Glas mit seinem Taschentuch ab und blickt zu mir hoch. »Denkst du«, fragt er leise, »dass sie es spüren? Denkst du, sie wissen, was passiert?«
    Ich schüttele verwirrt den Kopf. »Du musst jetzt schlafen.«
    Doch da zieht Spencer mich auf seinen Schoß. Er hält meinen Arm fest und berührt die Stelle, wo der Verband in der Armbeuge festgeklebt ist. »Weißt du eigentlich, wie furchtbar es für mich wäre, dich zu verlieren?«, flüstert er leidenschaftlich. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wie viel du mir bedeutest?«
    Meine Lippen bewegen sich kaum.

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