Zeit der Gespenster
suche Gray Wolf. John Delacour?«
Vielleicht liegt es daran, dass ich hochschwanger bin, vielleicht an meinem dringlichen Blick – jedenfalls steht die alte Frau auf, nimmt den Kanarienvogel von ihrer Schulter und setzt ihn auf die Stuhllehne. Sie lässt den unfertigen Korb auf dem Boden liegen und hinkt auf den Wald zu. Dann deutet sie auf ein Kiefernwäldchen, das sich über einen steilen Hang erstreckt, und überlässt mich mir selbst. Meine Beine schmerzen von der Anstrengung des Aufstiegs, und ich werde unsicher, ob diese Frau überhaupt verstanden hat, nach wem ich suche. Doch dann tut sich unversehens eine kleine Lichtung vor mir auf. Der Boden ist uneben, als kochte die Erde unter dem Gras. Zwischen diesen Erhebungen sitzt Gray Wolf.
Als er mich sieht, steht er auf, und ein Lächeln erhellt sein Gesicht. »Ich wusste nicht, ob ich Sie noch mal wiedersehe«, sagt er erleichtert.
Beklommen verschränke ich die Arme über dem Bauch. »Sie haben mich angelogen. Spencer hat herausgefunden, dass Sie im Gefängnis waren. Und mein Vater sagt, dass meine Mutter Sie nicht gekannt hat. Dass Sie Angst hatte vor Menschen wie Ihnen.«
»Menschen wie mir. Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass ich vielleicht nicht der Einzige bin, der hier lügt?«
»Aus welchem Grund sollten die beiden denn lügen?«
»Warum lügt man?«, fragt er zurück. »Fragen Sie mal unten am Fluss die Leute, wer sie sind, und jeder wird Ihnen erzählen, sie wären dunkelhäutige Franzosen. Vielleicht haben sie auch irisches oder italienisches Blut. Manche geben sich lieber als Schwarze oder Mohawk aus, weil das immer noch nicht so schlimm ist wie Abenaki. Eines müssen Sie wissen, Lia, hier darf es keine Indianer geben, das würde nämlich bedeuten, dass hier Menschen gelebt haben, bevor die alten Vermonter herkamen.«
»Wegen Mordes ins Gefängnis zu wandern ist aber etwas ganz anderes«, wende ich ein. »Man wird nicht für ein Verbrechen verurteilt, das man nicht begangen hat.«
»Ach nein?« Er macht einen Schritt auf mich zu. »Hat Spencer Ihnen von dem Mann erzählt, den ich getötet habe? Er war Aufseher im Steinbruch, und er hat einen Mann geschlagen, weil er nicht schnell genug Steine geschleppt hat. Einen Mann, der siebenundneunzig Jahre alt und mein Großvater war und der vor meinen Augen an den Schlägen gestorben ist.«
Ich rufe mir Abigails Unterlagen in Erinnerung: John ist ein notorischer Lügner und sehr gerissen … es ist absolut unmöglich, ihm die Wahrheit zu entlocken . »Dafür hätte Sie kein Gericht wegen Mordes verurteilt.«
»Auch nicht, wenn gewisse Leute mich loswerden wollten?«, sagt Gray Wolf. »Leute, auf die Geschworene große Stücke halten?«
Schlagartig sehe ich meinen Vater vor mir, der kurz vor der Verabschiedung des Sterilisationsgesetzes mit Governeur Wilson diniert. Dr. DuBois, der Spencer nicht dazu bringen kann, mich einweisen zu lassen … und der kein Sterbenswörtchen über den Selbstmordversuch von Professor Pikes Gattin verloren hat. »Sie haben aber nicht die volle Strafe abgesessen«, wende ich ein.
»Nein. Ob Sie’s glauben oder nicht, endlich hatte ich mal etwas, das sie wollten, etwas, mit dem ich handeln konnte.« Er blickt nach unten. »Der Gefängnisdirektor war ganz begeistert von dem neuen Sterilisationsgesetz. Insassen, die sich freiwillig für eine Vasektomie zur Verfügung stellten, bekamen fünf Jahre erlassen. Für mich bedeutete das die Freiheit.«
Es ist eine Sache, Spencer zuzuhören, wenn er über Sterilisation theoretisiert. Es ist etwas völlig anderes, einen Mann über seine eigene Vasektomie sprechen zu hören. »Aber um welchen Preis«, murmele ich.
»Ich habe nicht daran gedacht, was sie mit mir anstellen würden, auch nicht, dass ich nie eine Familie haben würde. Ich hatte nur den einzigen Gedanken, dass ich dann endlich das Kind kennenlernen könnte, von dem ich bereits wusste und das zur Welt kam, als ich schon im Gefängnis saß.« Gray Wolf hebt mein Kinn an. »Lia«, sagt er, »du warst es wert.«
SIEBEN
1. September 1932
Warum soll der Staat nicht geringe Opfer von denjenigen verlangen, die ihn schwächen. Warum soll er nicht verhindern, dass ihm noch mehr auf der Tasche liegen … Drei Generationen von Schwachsinnigen sind genug.
Richter Oliver Wendell Holmes 1927 bei der Begründung des Urteils des obersten Berufungsgerichtes im Staate Virginia im Fall Buck gegen Bell, bei dem die Sterilisation eines »möglichen Elternteils von sozial
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