Zeit der Gespenster
reicht sie mir. Ich denke an meine Mutter, die dieses Glücksgefühl nie erlebt hat. Jetzt, da ich die Kleine gefühlt und gehört habe, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich meinem Leben ein Ende machen wollte, ohne sie wachsen und gedeihen zu sehen. Es wird der Augenblick kommen, da sie mich anlächelt, der Augenblick, da sie ihre ersten unsicheren Schritte macht. Wie könnte ich das versäumen?
Ich lege sie in meine Armbeuge. »Ihr Name ist Lily«, sage ich.
Spencer tritt näher und blickt nach unten auf unser Baby. Auf ihr Gesicht – dunkel, rund wie der Mond, mit den flachen Gesichtszügen des Volkes, aus dem ihr Großvater stammt.
Als Spencer mich ansieht, begreife ich, dass er gehofft hat, das Baby würde ein Neuanfang sein, anstatt ihn umso heftiger zu beunruhigen. »Lily«, wiederholt er und schluckt.
»Spencer, es ist nicht so, wie du denkst. Gray Wolf – dieser Mann –, er ist mein Vater. Du kennst dich doch mit Vererbungslehre aus … du weißt, warum sie so aussieht. Aber sie ist von dir, Spencer, das musst du mir glauben.«
Spencer schüttelt den Kopf. »Dr. DuBois hat gesagt, dass du nach der Geburt verwirrt sein könntest … Wir sollten ihn holen, damit er nach dir sieht.« Er nimmt das Baby aus meinen Armen und dreht sich zu Ruby um, die Augen stumpf, die Stimme ruhig. »Nimm bitte den Wagen und hole den Doktor, Ruby.«
»Den Wagen …?« Sie ist noch nie mit dem Packard gefahren, aber sie ist klug genug, Spencer jetzt nicht zu widersprechen. »Ja, Sir«, murmelt Ruby und stiehlt sich an ihm vorbei.
Spencer will ihr folgen, das Baby im Arm.
»Nein«, rufe ich. »Spencer, ich will sie halten.«
Er starrt mich so lange an, als wiederholte sich unsere ganze gemeinsame Geschichte vor seinem inneren Auge. Tränen glänzen in seinen Augen. Doch dann zieht er einen Stuhl ans Bett und setzt sich. Er hält Lily so, dass ich ihr Gesicht sehen kann. Er lächelt schwach, und für einen kurzen Augenblick gebe ich mich der Hoffnung hin, dass Spencer verstehen könnte, dass nicht Blut eine Familie zusammenhält, sondern die Liebe. »Ruh dich aus, Cissy«, sagt er zu mir. »Ich kümmere mich um sie.«
Ich sehe mich rennen. Der Regen strömt mir übers Gesicht, meine Füße sind schlammverklebt, und doch weiß ich, dass ich vor meinem Verfolger fliehen muss, wer immer er ist. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, sehe ich ihn – den Mann, der schon mehrmals in meinen Träumen aufgetaucht ist, der Mann mit dem langen braunen Haar und den stillen Augen. Er ruft meinen Namen, und ich drehe mich erneut um, und kurz darauf stolpert er und stürzt. Ich bleibe stehen, um mich zu vergewissern, dass er sich nicht verletzt hat, und da sehe ich ihn – den Grabstein mit meinem Namen darauf, den Grabstein, durch den ich hindurchgelaufen bin.
Als ich mit einem Ruck erwache, spüre ich ein Gewicht auf meiner Hüfte. Spencer liegt quer über meinem Schoß. Zuerst denke ich, er schläft, und dann merke ich, dass er schluchzt. Seine Augen sind so blutunterlaufen, dass es mir Angst macht, und seine Haut dünstet Alkohol aus.
»Cissy«, sagt er. »Du bist wach.«
Mein Körper fühlt sich an, als wäre ich tagelang geprügelt worden. Meine Beine sind so schwach, dass ich sie nicht bewegen kann. Irgendwer – Spencer? – hat mit kalte Kompressen zwischen die Schenkel gepresst, um die Blutung zu stillen. »Wo ist Lily?«, frage ich.
Spencer nimmt meine Hand und führt sie an seine Lippen. »Cissy.«
»Wo ist mein Baby?« Ich stütze mich im Bett auf.
»Cissy, das Baby – es war zu jung. Seine Lunge …«
Ich erstarre.
»Das Baby ist gestorben, Cissy.«
»Lily!«, schreie ich. Ich will aus dem Bett springen, doch Spencer hält mich fest.
»Du hättest nichts tun können. Niemand.«
»Dr. DuBois …«
»Der hat eine Operation in Vergennes. Ruby hat ihm eine Nachricht hinterlassen, dass er kommen soll, sobald er kann. Aber als sie zurückkam, war das Baby schon …«
»Sprich es nicht aus«, sage ich drohend. »Sprich es nicht aus.«
Auch er weint. »Sie ist in meinen Armen gestorben.«
Ich will nur mein Baby. »Ich muss sie sehen.«
»Das geht nicht.«
»Ich muss sie sehen!«
»Cissy, ich habe sie schon beerdigt.«
Ich stürze mich auf ihn und schlage ihn auf die Brust, die Arme, den Kopf. »Das hast du nicht. Das hast du nicht!«
Er hält meine Handgelenke fest, schüttelt mich. »Wir hätten sie nicht taufen lassen können. Wir hätten sie nicht in geweihter Erde bestatten
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