Zeit der Gespenster
schnellsten Fluchtweg überlegte.
Bloß: Ross wusste, dass er nicht so ohne Weiteres auf die andere Seite wechseln würde. Er würde ein Geist werden, der in dieser Welt festsaß, gehalten durch den Schmerz, den er seiner Schwester bereitet hatte, durch das, was er nicht für Lia getan hatte.
Vielleicht würde er Eli Rochert ja doch helfen. Vielleicht würde Lia, wenn sie irgendwo war, wo sie ihn sehen konnte, dann einen Grund haben zu bleiben … egal, was van Vleet auch unternehmen würde, um sie zu vertreiben.
Frustriert schob er die Hände in die Hosentaschen, und seine Fingerspitzen stießen gegen etwas Metallisches. Aus beiden Taschen zog er je einen glänzenden Kupferpenny aus dem Jahre 1932.
»Wo hast du die denn her?«
Ross schrak zusammen. »Wieso bist du auf?«
Ethan war von Kopf bis Fuß in Kleidung gehüllt, obwohl die Veranda vor der Sonne geschützt war. »Ich weiß nicht. Du schläfst doch auch nicht, oder?« Ethan kam näher und schaute auf die Pennys. »Wenn du noch einen Dollar drauflegst, kriegst du gerade mal eine Tasse Kaffee.«
»Die Kinder von heute sind richtige Zyniker geworden.«
»Sonst kann man die Welt ja auch nicht ertragen«, erwiderte Ethan. »Wir sind die Generation Z.«
Ross zog die Augenbrauen hoch. »Und was kommt danach?«
»Ich schätze, dann fängt wieder alles von vorn an.« Er setzte sich auf die Verandaschaukel und ließ sie vor- und zurückschwingen, während Ross sich wieder eine Zigarette anzündete. »Kann ich auch eine haben?«
»Von wegen.« Ross schüttelte den Kopf. Genau das, was ihn in den Augen der Welt zum Versager machte, ließ ihn für Jungen in Ethans Alter so cool wirken.
»Mom sagt, du sollst nicht rauchen, wenn ich dabei bin.«
»Dann verrat’s ihr nicht.«
»Okay.« Er grinste. »Außerdem wäre es doch echt überraschend, wenn ich an Lungenkrebs sterben würde anstatt du weißt schon.«
Ross lehnte sich gegen das Verandageländer. Er war hundemüde. »Ich hab gehört, wie du gestern Abend mit dem Cop über einen Geist gesprochen hast.«
»Lauschen gehört sich nicht.«
Ethan zuckte die Achseln. »Ich glaube, man kommt wirklich woandershin … nachher«, sagte er. »Was glaubst du, wie es dort ist?«
Ross spürte einen leisen Schmerz in der Brust, als er begriff, dass Ethan nicht aus Neugier fragte, sondern um sich vorzubereiten. Er erinnerte sich daran, wie er Ethan das erste Mal in den Armen hielt, wie er in die rätselhaften Augen des Babys geblickt und gedacht hatte: Wir kennen uns. »Keine Ahnung, Kumpel. Mit Harfen und Engeln rechne ich jedenfalls nicht.«
»Vielleicht ist es ja bei jedem anders«, sinnierte Ethan. »Vielleicht darf ich da oben ständig in der Sonne sein und Skateboard fahren.«
Ross lächelte den Jungen an.
»Unglaublich.« Shelby stand auf der Veranda von Abes Laden und sah zu, wie Elis Bluthund lauwarmen Kaffee aus einer Schüssel leckte.
»Das geht ja noch. Schlimm wird es, wenn er Appetit auf Pralinen und Austern bekommt.«
Watson blickte zu Shelby hoch und drückte seine Schnauze gegen ihren Bauch. »Watson!«, wies Eli ihn zurecht.
»Schon gut.« Shelby kraulte den Hund hinter den Ohren. »Vielleicht findet er mich deliziös.«
»Hoffen wir, dass das was Gutes ist.«
»Das bedeutet köstlich.«
»Der Hund hat recht«, murmelte Eli und hob seine Tasse Kaffee an die Lippen.
Shelby spürte, wie die Röte am Hals anfing und sich nach oben hin ausbreitete. »Ich muss nach Hause. Ross passt auf Ethan auf, und Sie, ähm, haben wahrscheinlich alle Hände voll mit dem Pike-Fall zu tun …«
»Hat Ihr Bruder Ihnen das erzählt?«
Shelby nickte.
»Dann wissen Sie ja auch, dass der Fall nicht gerade dringlich ist.« Er ließ sie nicht aus den Augen.
»Was heißt das?«, fragte sie zögernd.
Eli lächelte langsam. »Dass ich jede Menge Zeit habe.«
ZEUGENAUSSAGE
Datum: 19. September 1932
Uhrzeit: 23 Uhr 36
Vernehmung von: John »Gray Wolf« Delacour
Vernehmende Beamte: Officer Duley Wiggs und
Detective F. Olivette vom Polizeirevier Comtosook
Ort: Polizeirevier Comtosook
– Bitte nennen Sie Ihren Namen und Ihr Geburtsdatum.
– Gray Wolf.
– Wie lautet Ihr offizieller Name?
– John Delacour. Mein Geburtsdatum ist der 5. Dezember 1898.
– Wo sind Sie derzeit wohnhaft?
– Mal hier, mal dort.
– Wo waren Sie gestern Abend?
– Im »Rat Hole«. Einer Kneipe in Winooski.
– Wann sind Sie dort eingetroffen?
– Gegen acht.
– Um wie viel Uhr sind Sie gegangen?
– Ich weiß nicht genau …
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