Zeit der Heimkehr
deutlich. Offensichtlich war der bloße Gedanke ans Fliegen für ihn eine Qual.
Vorsicht, der zugesehen hatte, schüttelte den Kopf. »So was Komisches habe ich noch nie gesehen.«
»Solche Bemerkungen sind auch keine Hilfe«, sagte Jon-Tom in scharfem Ton zu dem Waschbären. Er wandte sich wieder an Teyva und lächelte beruhigend. »Wann hast du zum ersten Mal erkannt, daß du dich nur vorm Fliegen fürchtest und keineswegs körperlich flugunfähig bist?«
Scheu erwiderte der Hengst: »Oh, das weiß ich schon lange. Wenn du nach irgendeinem Schlüsselereignis suchen solltest, nach einem tiefsitzenden, dunklen Geheimnis meiner Vergangenheit, brauchst du nicht weit zu suchen. Als ich noch sehr jung war, so sagte man mir, obwohl ich mich kaum daran erinnere, habe ich angeblich damit begonnen, an einer Flugleine zu fliegen, wie das bei jungen Fohlen üblich ist. Anscheinend war ich was ich zwar kaum glauben kann, aber man hat mir versichert, es sei so gewesen - sogar viel kühner als die meisten anderen. Ich versuchte direkt aus dem Stall herauszufliegen, der mein Zuhause war. Wie ein Pfeil bin ich über die Stalltür gesaust, eine Tür, die ungefähr so groß war wie du, Mensch.«
»Und was ist dann passiert?«
»Ich bin gestolpert.« Er erschauerte deutlich. »Meine Beine schlugen gegen den oberen Teil der niederen Tür. Ein Huf verfing sich im Türbalken, und der Rest von mir stürzte auf der anderen Seite herab.«
»Da hast du dir bestimmt jede Menge Schrammen geholt?«
»Überhaupt nicht. Du mußt verstehen, die Leine lag um meinen Hals, und die Tür war größer als ich. Also war ich in der Falle, hing an dem Strick um meinen Hals. Ich versuchte mich aufzurichten, indem ich mit den Schwingen schlug, doch die waren zwischen meinem Rücken und der Tür eingeklemmt. So hing ich also da und wurde langsam, aber sicher erwürgt, bis eine Mähre, eine Freundin meiner Mutter, zufällig vorbeikam. Die hat die Leine entzweigebissen, doch inzwischen hatte ich schon das Bewußtsein verloren. Die Erinnerung daran ist ständig wachgeblieben. Und wenn ich heute versuche zu fliegen, kehren die Furcht und der Schmerz schlagartig wieder zurück, und ich habe das Gefühl, ich würde erhängt. Du siehst also, daß dahinter kein großes Geheimnis steckt. Ebensowenig kann ich auch großartig etwas dagegen tun.« Jon-Tom nickte. »Völlig einleuchtend.« Teyva musterte ihn überrascht. »Wirklich?«
»Gewiß doch. Du kannst natürlich nicht fliegen, wenn dich ein Kindheitstrauma am Boden hält. Viele Leute kennen die Ursache ihrer irrationalen Ängste. Sie wissen lediglich nicht, wie sie sie überwinden sollen. Das erste, was du erkennen mußt, ist, daß deine Angst tatsächlich irrational ist. Daß alles vor ganz langer Zeit stattfand, als du fast noch ein Säugling warst. Du mußt dich davon überzeugen, daß dein Geist in Ordnung ist, genau wie deine Flügel in Ordnung sind, deine Beine oder jeder andere Teil deines Körpers.« Er trat ein paar Schritte vor, bis er dem Hengst praktisch Auge in Auge gegenüberstand.
»Du kannst deine Angst überwinden, Teyva. Du mußt sie dir nur selber ausreden. Es gibt keine Leine um deinen Hals, nur die eine in deiner Erinnerung. An einer Erinnerung kannst du nicht ersticken. Erweckt die Tatsache, daß du gleich ausgenommen und aufgespießt werden sollst, um jemandem als Abendessen zu dienen, in dir denn kein Bedürfnis, hier rauszukommen?«
»Ich bin ebensowenig daran interessiert, zu einer vorzeitigen Mahlzeit zu werden, wie du, aber ich kann einfach nichts dagegen unternehmen.« Wieder ließ er die großen Schwingen flattern. Der Luftstoß dieser mächtigen Gliedmaßen wehte Jon- Tom kräftig ins Gesicht. Teyva hob vom Boden ab, ein Zoll, zwei Zoll, drei, diesmal sogar einen halben Fuß, bevor er wieder zurückfiel. Er schwitzte und zeigte bereits Schaum vorm Maul.
»Ich kann es einfach nicht«, sagte er angespannt. »Ich spüre die Leine um meinen Hals. Ich spüre, wie sie sich anspannt und verengt, mir die Luft abschnürt. Wenn ich zehn Fuß hoch komme, werde ich vor Luftmangel das Bewußtsein verlieren und zu Boden stürzen. Ich weiß es einfach!« Böse sah er Jon- Tom an. »Du weißt nicht, wie das ist, dieses Gefühl. Du kannst es dir nicht vorstellen. Also erzähl mir nicht, daß du es doch kannst.«
»Das werde ich nicht tun.« Jon-Tom wollte geduldig sein, sanft. Leider begann nun das Feuer in der Grube hell aufzulodern. Es war keine Zeit für Geduld oder Sanftheit. Er
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