Zeit der Heimkehr
zu wünschen übrig.«
»Ach, komm schon, Mudge. Es ist doch nur ein Spiegel.«
»Na klar.« Er ärgerte sich über sich selbst. »Aber seid wenigstens darauf vorbereitet, mich aufzufangen, falls ich in Ohnmacht fallen sollte.«
Vorsichtig setzte er sich auf den Stuhl, legte die Arme auf die hölzernen Lehnen und wandte sich dem Spiegelbild zu. Es zeigte einen viel älteren Otter im Endstadium der Austrocknung: Der größte Teil des Pelzes war silbern geworden, und die Gestalt war so hager, daß im Gesicht und an den Schultern die Knochen zu erkennen waren. Auf der linken Seite der Schnauze fehlten mehrere Barthaare, der Mund zitterte dort und geiferte, während das rechte Auge unbeherrscht und unabhängig vom linken wild rollte. Die Kleider waren zerfetzt und zerlumpt.
Es war das Spiegelbild eines Lebens, das bis ins Extrem geführt worden war, bis zum Bersten voll mit übermäßig viel Alkohol, allzu reichhaltiger Nahrung, Drogen, Hurerei und einer Disziplinlosigkeit in allen Dingen. Trotz der Anzeichen nahender Senilität war der lüsterne Ausdruck unverkennbar. Das war Mudge.
Jon-Tom musterte ihn besorgt, als er wieder vom Stuhl glitt. Weegee sagte nichts, sie umarmte ihn nur fest. Er streichelte den Pelz in ihrem Nacken.
»Na, na, Liebchen, kein Grund zur Aufregung.«
»Es macht dir nichts aus, dich so zu sehen?« fragte Jon-Tom ihn.
»Warum sollte mir das was ausmachen?« Er sah das Trio mit den besorgten Mienen an. »So 'abe ich mich schon immer selbst gese'en. Außerdem is das 'ne Widerspiegelung dessen, was ich jetzt bin, sie zeigt aber nich an, wie ich mal enden werde. Kommt schon, nur nich so trübsinnig. Ihr deprimiert mich ja richtig mit euren langen Gesichtern. Du bist dran, Jon-Tom.«
»Ich weiß ja nicht.« Das Abbild des herunter gekommenen Otters stand ihm noch immer vor Augen. Was mochte der Spiegel ihm wohl über sich erzählen?
»Geh schon«, sagte Vorsicht, ungewöhnliche Bestimmtheit zur Schau stellend. »Wir haben es alle getan, jetzt mußt du es auch tun. Du hast doch wohl nicht Angst vor dem, was du vielleicht zu sehen bekommst, oder?«
»Doch, die habe ich.«
»Spring einfach rein ins kalte Wasser, Kumpel. Wahrscheinlich siehst du lediglich 'ne unverzerrte Spiegelung, wie Vorsicht.«
Nun, da alle drei Gefährten es mit dem Spiegel riskiert hatten, konnte er sich kaum ausschließen. Also ließ er sich auf dem Stuhl nieder, hob die Augen und blickte nervös ins Glas.
Sein Unterkiefer klappte herunter, und er bewegte den Kopf von Seite zu Seite, doch das, was er im Spiegel wahrnahm, veränderte sich dadurch nicht.
»Bist du in Ordnung, Jon-Tom?« Weegee blickte ihn besorgt an. Er erwiderte nichts, und sie sah daraufhin zu Mudge hinüber.
»Was ist los? Was ist falsch gelaufen?«
»Möglicherweise gar nich's, Liebchen. Vielleicht is das nur was, das wir nich verste'en können, weil wir dazu zu doof sind.« Er hielt sie fest. »Nich alle Antworten im Leben sind leicht.«
Im Spiegel war kein Bild zu sehen, überhaupt keins. Vorsicht beugte sich vor und erblickte sich selbst, und man konnte die Otter sehen, die ein Stückchen weiter hinten dastanden, doch Jon-Tom selbst hätte ebensogut unsichtbar sein können. Der Waschbär half ihm aus dem Stuhl. Immer noch benommen, lehnte er sich gegen den Frisiertisch, wobei er darauf achtete, nicht in Kontakt mit dem abgeschrägten Spiegelglas zu geraten, das die Tischoberfläche beherrschte.
»Aber was hat das zu bedeuten? Soll das heißen, daß ich nicht wirklich hier bin? Daß ich nicht wirklich existiere?« Er befühlte seinen Brustkorb, seine Beine. »Ich fühle mich aber wirklich. Ich fühle mich, als wäre ich hier.«
Mudge versuchte ihm zu helfen. »Vielleicht bedeutet das nur, daß dein wahres Selbst sich noch nich offenbart 'at. Vielleicht fehlt noch was, das erst noch 'inzugefügt werden muß, um dich vollständig zu machen, 'errje, ich 'abe ja schon immer gewußt, daß du nich ganz da bist.«
»Mudge, das ist nicht die Zeit für Witze. Ich habe Angst.«
»Dann is das sogar die allerbeste Zeit für Witze, 'e, denken wir doch für 'ne Weile mal über was anderes nach. Glaube kaum, daß du dir Sorgen machen mußt, du könntest verblassen.« Sein Blick schweifte durch die Kammer und heftete sich auf den goldenen Kelch. »Was willst du wetten, daß dieses feingekerbtes Gefäß auch quasseln kann?« Er nahm es auf, wie schon einmal zuvor, doch obwohl er es fest umspannte, gaben seine gehämmerten Seiten kein Leuchten von sich, aus
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