Zeit der Hingabe
in seine Schranken hätte verweisen müssen … und von denen sie damals keinen Gebrauch gemacht hatte. Mittlerweile hatten ihr Vater und ihre Brüder ihr Kniffe zur Selbstverteidigung beigebracht, damit sie nie wieder hilflos der Gewalt eines Mannes ausgesetzt wäre.
„Sehr gütig von Ihnen.“ Sie übergab die Zügel einem Diener und ließ sich vom zweiten in die abgedunkelte Karosse helfen. Kurz darauf wurde der Wagenschlag geschlossen, die Pferde zogen an, und sie war allein mit ihrem Retter, den sie nur als Schattenriss in einer Ecke der luxuriös ausgestatteten Karosse wahrnahm.
Sie sank in weiche Polster, zu ihren Füßen stand eine wärmende Kohlenpfanne, und im nächsten Moment bedeckte eine Pelzdecke ihre Knie, obgleich sie keine Bewegung an dem Fremden wahrgenommen hatte.
„Sie sind Lady Miranda Rohan, wenn ich nicht irre?“, ertönte die weiche Stimme aus dem Dunkel.
Miranda straffte sich, ihr Blick flog zur Tür. Wenn nötig, würde sie den Schlag aufreißen und abspringen. Der Wagen fuhr nicht allzu schnell.
Der Fremde schien ihre Gedanken zu lesen. „Ich führe nichts Böses im Schilde, Lady Miranda. Ich möchte Ihnen lediglich zu Diensten sein.“
Ein tröstlicher Gedanke, wobei sie sich nicht sicher war, ob sie den Worten trauen konnte. Sie blickte aus dem Fenster. „Wohin bringen Sie mich?“
„Zu Ihrem Haus in der Half Moon Street. Bitte sehen Sie mich nicht so argwöhnisch an. Dummerweise ist die Londoner Gesellschaft eine Brutstätte übler Nachrede, das musste ich zu meinem Leidwesen am eigenen Leibe erfahren. Alle Welt kennt ja Ihren … nun ja … ungewöhnlichen Lebensstil.“ Seine Stimme klang sehr sanft.
„Das wundert mich nicht“, entgegnete sie mit einem dünnen Lächeln. „Dabei könnte man meinen, die gehobenen Kreise hätten Besseres zu tun, als sich mit meiner Person zu beschäftigen. Aber es gibt nichts Mühsameres, als sich gegen Vorurteile behaupten zu müssen, von Leuten, die empörende Gerüchte in die Welt setzen und auch noch daran glauben.“
„Es gibt zwar weitaus schlimmere Dinge“, widersprach er trocken, „aber ich weiß, was Sie meinen. Ich selbst war mein ganzes Leben Zielscheibe gehässiger Klatschgeschichten.“
Miranda versuchte, die Locken, die sich bei dem Unfall aus ihrer Frisur gelöst hatten, wieder unter ihrem Hut verschwinden zu lassen. Aber vermutlich konnte ihr seltsamer Retter ebenso wenig sehen wie sie und bemerkte nicht, dass sie aussah wie eine aus dem Wasser gezogene Katze.
„Tatsächlich?“, fragte sie. Ihre Neugier ließ sie ihr zerzaustes Haar vergessen.
„Oh, ich bitte um Verzeihung. Wie unhöflich von mir. Gestatten Sie mir, mich vorzustellen. Ich bin Lucien de Malheur.“ Er machte eine kurze Pause. „Vermutlich haben Sie von mir gehört.“
Miranda ließ sich ihr Erstaunen nicht anmerken. Das war also der fünfte Earl of Rochdale, der berüchtigte Skorpion. Sie spähte fasziniert in die Dunkelheit. „Ganz recht“, antwortete sie in ihrer gewohnten Offenheit. „Selbst in meiner klösterlichen Abgeschiedenheit kamen mir Geschichten über Sie zu Ohren. Im Vergleich zu Ihnen bin ich eine Heilige.“
Er lachte leise. „Aber wir wissen, dass Gerüchte selten der Wahrheit entsprechen.“
„Nur selten?“
„Nun ja, gelegentlich ist ein Körnchen Wahrheit an übler Nachrede. Zweifellos haben Sie gehört, dass ich mit Verbrechern Umgang pflege, ein ausschweifendes Leben führe, junge Männer in den finanziellen Ruin treibe und Mitglied im anrüchigen Satanischen Bund bin. Machen Sie kein so entsetztes Gesicht. Viele Leute denken, dieser Club existiere längst nicht mehr, aber es ist ein offenes Geheimnis. Und Sie haben gewiss auch von meinen entstellenden Narben gehört, denen zufolge ich besser als Schauobjekt in einem Horrorkabinett dienen sollte.“
Mit ähnlichen Worten war ihr das Aussehen des Earls of Rochdale beschrieben worden, was sie ihm natürlich verschwieg. „Und wo ist das Körnchen Wahrheit an dieser üblen Nachrede?“ Sie musste nicht aus dem Fenster sehen, um zu wissen, dass der Wagen in die Half Moon Street eingebogen war. Leider. Diese Begegnung war das Aufregendste, was sie seit Wochen erlebt hatte.
Er schwieg lange, als wäge er seine Antwort sorgsam ab.
„Das ist die Wahrheit, Lady Miranda. Ich bin ein hässliches Scheusal mit einem lahmen Bein und ziehe es vor, meine Missgestalt einer fremden Dame nicht zuzumuten.“
Es drängte sie, das Gesicht des berüchtigten Earls zu sehen, wobei sie
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