Zeit der Hingabe
Stunden London erreichen würden, aber Jacob war mit seiner Geduld am Ende.
Der Hausbursche hielt den Kopf des Führpferdes, und Long Molly kletterte in die Kutsche, ohne auf Jane zu warten. Die feine Dame war es allerdings nicht gewohnt, das Treppchen ohne Hilfe zu erklimmen. Also stellte Jacob sich hinter sie, legte ihr die Hände um die Taille und hob sie kurzerhand in den Wagen.
Nicht auf die helfenden Hände gefasst, versuchte sie sich erschrocken umzudrehen und landete nicht besonders anmutig auf der Bank. „Verzeihung, Miss“, entschuldigte er sich untertänig. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Kalkweiß im Gesicht und sprachlos starrte sie ihn an, als sehe sie ein Gespenst. Long Molly half ihr, sich zurechtzusetzen, und legte fürsorglich eine Decke um sie.
„Ruhig Blut, mein Kind“, sagte sie in ihrem breiten Yorkshire-Akzent. „Lassen Sie sich von dem Grobian keine Angst einjagen.“
Jane fand ihre Stimme wieder, als er den Wagenschlag zuklappte. „Er macht mir keine Angst“, widersprach sie mit belegter Stimme.
Jacob schwang sich auf den Kutschbock und bedeutete dem Hausburschen durch ein Nicken, beiseitezutreten. Miss Pagett hatte ihn in bestürztem Wiedererkennen angesehen, aber das war unmöglich. Sie konnte nicht wissen, wer er war, nur weil sie seine Hände um ihre Taille gespürt hatte. Herrgott noch mal, sie trug unzählige Stoffschichten und er Lederhandschuhe. Sie konnte ihn nicht erkannt haben.
Aber sie hatte ihn angesehen, als erkenne sie ihn.
Long Molly war eine kluge Frau und würde ihr Bestes tun, um ihre Schutzbefohlene von unerwünschten Grübeleien abzulenken. In spätestens vier Stunden würden sie die Vororte von London erreichen; bis dahin hätte sie ihre Zweifel bestimmt vergessen. Und wenn sie kurz danach ihr Elternhaus erreichten, war er endlich von ihr befreit. Dem Himmel sei Dank!
Sie war nicht für Männer wie ihn gedacht, das hatte er immer gewusst. Aber das war nur zu schnell vergessen, wenn er in ihre Sternenaugen blickte und ihr Veilchenduft ihn anwehte.
Je früher er sie ablieferte, umso besser.
Benommen lehnte sich Jane in die Polster zurück. Mrs Grudge packte sie fürsorglich in eine Decke, und sie hielt den Blick aus dem Fenster gerichtet, als der Wagen mit einem heftigen Ruck anfuhr.
Ein erfahrener Kutscher wäre sanft angefahren, aber der Mann, der den Wagen lenkte, war ebenso wenig ein Kutscher wie sie. Er war ein Juwelendieb, daran bestand kein Zweifel.
Diesen Verdacht hatte sie schon gehegt, seit sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, aber der Gedanke war ihr zu abwegig erschienen, um sich näher damit zu befassen.
Abwegig oder nicht, jetzt wusste sie Bescheid. Seine Hände um ihre Taille hatten etwas höchst Seltsames in ihr ausgelöst: Ihr war, als durchzucke sie ein greller Blitz. Sie hatte ihn erkannt, und nichts konnte sie mehr davon abbringen.
Auch nicht Mrs Grudge mit ihren unterhaltsamen Geschichten über den Schürzenjäger Jacobs und seine Streiche im Haus des Skorpions, höchst amüsante Anekdoten, über die Jane an den richtigen Stellen lachte und kein Wort davon glaubte.
Jacobs, falls das sein richtiger Name sein sollte, war kein Dienstbote. Wahrscheinlich war auch Mrs Grudge nicht die, für die sie sich ausgab. Sie spielte lediglich die Rolle einer ehrbaren Witwe und verstand sich darauf, Lügenmärchen zu erfinden. Jane verbarg ihre Hände unter der Wolldecke und spielte mit dem Diamantring, streifte ihn vom Finger und steckte ihn wieder an. Was würde Miranda an ihrer Stelle tun? Würde sie mit gesenktem Kopf schweigend abwarten, bis ihr Leben wieder in geordneten Bahnen verlief? Oder würde sie den vermeintlichen Kutscher zur Rede stellen, ihn wissen lassen, dass sie ihn erkannt hatte, und seine Reaktion abwarten? Vielleicht würde Miranda ihn sogar küssen, nur um zu prüfen, ob ein zweiter Kuss mit der gleichen Magie wie der Erste einherging.
Liebend gern hätte Jane ihn noch einmal geküsst. Seit der nächtlichen Begegnung im Schlafgemach der Duchess schien eine Ewigkeit vergangen zu sein. Womöglich hatte sie sich den Zauber seiner Umarmung nur eingebildet, die berauschenden Wonnen, die sie bei seinem glutvollen Kuss durchströmt hatten. Wenn er sie noch einmal küsste, hätte sie den Beweis, dass er nichts war als ein lüsterner Kerl, dem es Spaß machte, unschuldige junge Mädchen in Verwirrung zu stürzen.
Aber es würde keinen zweiten Kuss geben. Sie war nicht mutig wie Miranda, sondern die reizlose
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