Zeit der Hingabe
Anthony steuerte kaum etwas zu dem Gespräch bei, gab sich damit zufrieden, seiner Gemahlin bewundernde Blicke zuzuwerfen und gelegentlich ein paar Liebenswürdigkeiten zu murmeln. Ein angenehmer Ehemann, dachte Miranda leicht belustigt, zumal Sir Anthony obendrein über ein beträchtliches Vermögen verfügt.
Rochdale House, am Rande der vornehmen Wohngegend an einem kleinen Platz gelegen, war nicht wie erwartet festlich erleuchtet. Das riesige düstere Anwesen wirkte abweisend, und Mirandas Bedenken stellten sich wieder ein. Hatte sie sich zu einer Unbesonnenheit hinreißen lassen?
Während sie versuchte, sich eine plausible Ausrede zu überlegen, um in letzter Sekunde einen Rückzieher zu machen, wurde sie die breiten Marmorstufen hinauf in eine hell erleuchtete Eingangshalle geführt. Und sie bereitete sich innerlich darauf vor, dem sogenannten Monster, das den Wunsch hatte, sich mit ihr anzufreunden, zum ersten Mal ins Gesicht zu sehen.
Der Gastgeber war nicht anwesend. Ein Diener nahm ihr den Mantel ab, und sie blickte sich ratlos in der leeren Halle um. Aus dem Musiksalon im ersten Stock erklang Musik.
„Wir sind etwas spät dran“, erklärte Lady Calvert entschuldigend. „Lucien hat vielleicht gar nicht mehr mit uns gerechnet.“
Miranda, die nicht zur Schüchternheit neigte und stets aufgeschlossen war, neue Erfahrungen zu machen, was ihr in der Vergangenheit sehr geschadet hatte, wurde von seltsamer Unruhe ergriffen. Ein unheimliches Gefühl bemächtigte sich ihrer, dass es kein Zurück mehr gab, wenn sie den nächsten Schritt tun würde.
„Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen und die Gesellschaft stören“, sagte sie und wandte sich suchend um. Doch der Diener war bereits mit ihrem Mantel verschwunden. Lady Calvert fasste sie beim Ellbogen und führte sie munter plaudernd die Treppe hinauf. Miranda wagte keinen weiteren Protest. Sie war noch nie in ihrem Leben vor einer Herausforderung zurückgewichen. Es wäre unhöflich und blamabel, wenn sie jetzt noch die Flucht ergreifen würde.
Signor Tebaldis schmetternder Gesang erfüllte den großen Salon, und niemand nahm Notiz von der Ankunft der verspäteten Gäste. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Kerzenwachs, schwerem Parfum und erstickender Hitze. Die etwa zwei Dutzend Gäste lauschten hingerissen dem Liedervortrag des berühmten Tenors.
Nur ein Herr, der im Schatten etwas abseits saß, hielt den Blick auf Miranda gerichtet. Lucien de Malheur.
Lady Calvert hatte sich nach getaner Pflicht entfernt, und Signor Tebaldi stimmte, kaum war der Applaus verklungen, die nächste große Arie an. Miranda blieb wie angewurzelt stehen.
Der Gastgeber hielt den Blick immer noch auf sie gerichtet, ohne Anstalten zu machen, sich zu ihrer Begrüßung zu erheben. Vielleicht fällt ihm das Gehen schwer, überlegte sie kurz. Sie könnte sich leise auf einen leeren Stuhl setzen, möglichst weit entfernt von ihm, oder kehrtmachen und fliehen, was ihr niemand verübeln könnte. Sein Versäumnis, sich nicht zu ihrer Begrüßung zu erheben, war ein ungeheuerlicher Verstoß gegen jede Höflichkeit.
Stattdessen bewegte sie sich wie eine Marionette auf ihn zu, ohne sein Gesicht im Schatten zu erkennen. Er saß abseits, was ihr merkwürdig erschien, aber sie näherte sich ihm wie in Trance. Plötzlich wurde ihr der Blick auf seine Gestalt durch eine breite Männerbrust versperrt. Beinahe wäre sie mit dem Fremden zusammengestoßen.
Erschrocken hob sie den Blick und sah in ein markantes Männergesicht mit dunklen Augen und einem gewinnenden Lächeln. Ein Gesicht, das ihr irgendwie bekannt vorkam, und eine Sekunde fragte sie sich, ob sie sich geirrt hatte und es sich bei dem gut aussehenden Mann um Lucien de Malheur, Earl of Rochdale handelte.
„Lady Miranda!“, grüßte er, und sie wusste, dass er nicht ihr Gastgeber war. Die weiche tiefe Stimme des Skorpions hatte sich in ihr Gedächtnis eingeprägt, war nicht zu vergleichen mit der forschen Stimme des jungen Mannes. „Wir haben uns seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Aber als ich hörte, dass Sie eventuell heute Abend erscheinen, habe ich die Tür im Auge behalten, muss ich gestehen. Darf ich hoffen, dass Sie mich nicht vergessen haben?“
„Selbstverständlich habe ich Sie nicht vergessen“, log sie prompt.
Er lachte herzhaft. „Nicht, dass ich es wagen würde, je an der Aufrichtigkeit einer jungen Dame zu zweifeln, doch ich befürchte, dass Sie sich nicht an meinen Namen erinnern. Ich bin Gregory
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