Zeit der Hingabe
Albträume.“
Er schien sein anfängliches Erstaunen überwunden zu haben und musterte sie kühl. „Also kann ich nicht mit Ihrem Mitgefühl und Ihrer Anteilnahme rechnen?“ Er schenkte Wein in die Gläser.
„Selbstverständlich, falls Sie es brauchen. Sie machen mir allerdings nicht den Eindruck, als hätten Sie so etwas nötig.“
„Gut beobachtet. Ich habe eigentlich alles im Leben, was ich brauche, bis auf eine Sache. Und ich könnte mir vorstellen, die fehlt auch Ihnen.“ Er lehnte sich lässig zurück. Hinter seinem Plauderton glaubte sie allerdings etwas Ernsthafteres herauszuhören. „Ich habe Geschäftspartner, Feinde, Geliebte und einen großen Bekanntenkreis. Ich brauche einen Freund.“
Das war genau das Richtige, um eine mitfühlende Saite in ihr anklingen zu lassen. Miranda ließ sich allerdings keine Regung anmerken. „Denken Sie denn, wir könnten Freunde sein? Ich muss gestehen, Freunde sind in letzter Zeit selten in meinem Leben geworden. Allerdings wird Freundschaft zwischen einem Mann und einer Frau meist missverstanden. Würde die Gesellschaft so etwas tolerieren?“ Die letzten Spuren ihrer Bedenken verblassten.
„Ich bezweifle, dass Sie das stören würde. Wie mir scheint, steht uns beiden keine große Auswahl an wahren Freunden zur Verfügung. In unseren Kreisen ist Toleranz nun mal selten anzutreffen. Allerdings sollte man die Hoffnung nicht völlig aufgeben.“
Sie sah ihn lange nachdenklich an. Irgendwie kam er ihr vor wie ein kleiner Junge, dem es gefiel, sich von anderen zu unterscheiden. Allerdings würde sie sich davor hüten, ihn zu unterschätzen. Trotz seines entstellten Gesichts und körperlichen Gebrechens wirkte er seltsam … überlegen. Männlich. Und nach ihrem beschämenden Fehltritt hatte sie gelernt, sich vor solchen Männern in Acht zu nehmen.
Andererseits hörte sich sein Freundschaftsangebot aufrichtig an. Als nehme er tatsächlich Anteil an ihrem einsamen Leben. Und letztlich hatte er ja recht – viele Freunde waren ihr weiß Gott nicht geblieben.
„Es wäre mir eine Ehre, Sie als Freund zu haben“, sagte sie zu ihrem eigenen Erstaunen.
Sein Lächeln erschien ihr wie eine Offenbarung. Lucien de Malheur wäre ohne seine Narben schön wie ein Adonis. Sein Lächeln ließ alles andere vergessen.
Und sie erwiderte das Lächeln.
Zu ihrer Verwunderung vergingen die Stunden wie im Flug. Während ihrer angeregten Unterhaltung stellte sie fest, dass sie sich nach einem Mann wie ihm gesehnt hatte. Einem Freund, keinem Liebhaber. Ein Mensch, der die Dinge ähnlich sah wie sie – mit einem Funken ironischer Selbstkritik. Er brachte sie zum Lachen, vorwiegend mit sarkastisch witzigen Bemerkungen, und es bereitete ihr Vergnügen, gegen seine verschrobenen Eitelkeiten zu sticheln.
„Ich sehe in Ihnen so etwas wie eine wagemutige Heldin aus Shakespeares Theaterstücken“, bemerkte er. „Nicht die Figur der Miranda aus seiner Komödie Der Sturm , die behütete Tochter des Zauberers Prospero auf einer einsamen Insel. Ich sehe Sie eher als eine Frau, die gern in Männerkleider schlüpft und in die Wälder flieht wie Rosalind oder Viola und den bedauernswerten jungen Helden durch ihre List glauben macht, er habe sich in einen anderen Mann verliebt.“
„Mag sein. Vermutlich sehen Sie sich als finster brütenden Othello. Für mich gleichen Sie eher dem zu Unrecht beschuldigten und gefolterten Sklaven Caliban aus Der Sturm . Ich halte Sie für nicht annähernd so Furcht einflößend und monströs, wie Sie sich den Anschein geben wollen.“
Er sah sie lange sinnend an, und sie begegnete seinem Blick unverwandt. „Nein, Mylady“, erwiderte er schließlich samtweich. „Sie sind im falschen Stück. Ich bin Richard der Dritte, hässlich und missgebildet, wild entschlossen, ein Bösewicht zu sein.“
Sie lachte, da ihr keine passende Entgegnung einfiel. Sein dünnes Lächeln ließ wieder die schwelende Beklommenheit in ihr aufsteigen. Er scherzte natürlich. Allerdings war sie sich beim Blick in seine hellen Augen nicht mehr so sicher.
Auf der Heimfahrt in seiner luxuriösen Karosse dachte sie immer noch an diesen Augenblick. Er hatte sie aus einer Seitentür zum wartenden Wagen gebracht, unbemerkt von den anderen Gästen. Hatte ihr beim Einsteigen geholfen, ihre Hand einen atemlosen Moment gehalten und ihr tief in die Augen geblickt.
Doch statt ihre Hand zu küssen, hatte er sie sinken lassen. Miranda hatte hastig die Handschuhe übergestreift im beschämenden
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