Zeit der Hingabe
den Umschlag zu öffnen. Es war mehr als eine Woche vergangen, seit sie mit Lucien de Malheur in seinem Haus zu Abend gespeist hatte, und seither hatte sie nichts von ihm gehört. Kein Blumenstrauß, nicht einmal eine kurze Notiz, womit er sich für den reizenden Abend bedankt hätte.
Also hatte sie den Schluss gezogen, dass ihn die gemeinsamen Stunden gelangweilt hatten – was keineswegs verwunderlich wäre –, während sie diesen Abend, den ersten seit Wochen mit geistreichen Gesprächen außerhalb der Familie, sehr genossen hatte.
Sie trommelte nervös mit den Fingern auf den Umschlag. Sollte es sich um die verspätete ersehnte Notiz handeln, zog sie es vor, sie alleine zu lesen. Jane kannte sie nur allzu gut, und Miranda war sich über ihre Gefühle für Lucien de Malheur keineswegs im Klaren und noch weniger bereit, darüber zu sprechen.
„Willst du das Couvert nicht öffnen?“, fragte Jane, vergaß ihre bunten Bänder und stand auf. Jane war hochgewachsen und dunkelhaarig wie ihre Mutter, ohne Evangelina Pagetts atemberaubende Schönheit oder den sarkastischen Humor ihres Vaters geerbt zu haben. Sie war ein wenig zu mager, blass und unscheinbar und die treueste Freundin, die Miranda sich denken konnte.
„Das kann warten.“ Miranda legte den Umschlag auf das Silbertablett zurück.
„Nein, kann es nicht“, widersprach Jane heftig und griff nach dem Brief, ehe Miranda sie daran hindern konnte. „Schließlich bin ich es, der ein sterbenslangweiliges Leben bevorsteht. Nur mit dir kann ich noch ein wenig Spaß am Leben haben.“
Miranda sprang auf und wollte ihr den Brief entreißen, den Jane lachend in die Höhe hielt. „Du bist im Begriff, einen rechtschaffenen Gentleman zu heiraten, der dich liebt, du wirst in einem schönen Haus leben und reizende Kinder großziehen und … Was machst du für ein Gesicht? Bist du etwa nicht glücklich?“
Miranda gab ihren Kampf um den Brief auf und musterte die Freundin besorgt.
Jane versuchte zu lächeln, was ihr kläglich misslang. In ihren Augen las Miranda eine Wehmut, die ihr bislang entgangen war.
„Gelegentlich trügt der Schein“, begann Jane zaghaft. „Mr Bothwell hofft, ich werde eine gute Ehefrau und ihm viele Kinder schenken. Er wünscht sich dringend einen Erben. Ihm gefallen mein ruhiges Wesen, meine guten Manieren und meine Bescheidenheit, und er findet, dass ich seinen Ansprüchen gerecht werde.“
„Wie bitte? Seinen Ansprüchen gerecht werden?“ , wiederholte Miranda aufgebracht. „Und du hast diesen unverschämten Antrag angenommen?“
„Ich bin dreiundzwanzig, Miranda. Seit meinem Debüt vor fünf Jahren habe ich in keiner einzigen Ballsaison einen Antrag erhalten. Immerhin ist Mr Bothwell ein vermögender Gentleman.“ Ihre Stimme hatte leicht zu zittern begonnen.
„Und deine Eltern sind mit dieser ungeheuerlichen Verbindung einverstanden?“
„Ich habe natürlich behauptet, ich sei unsterblich in ihn verliebt. Ich will nicht ewig bei meinen Eltern wohnen und wünsche mir Kinder, eine eigene Familie. Ich bin sicher, dass Mr Bothwell die richtige Wahl für mich ist.“
Miranda schwieg sehr lange, dann schloss sie Jane in die Arme. „Liebste Freundin, du hättest seinen Antrag ablehnen müssen. Du könntest doch bei mir wohnen. Und wir werden zwei schrullige alte Damen mit einem Haus voller Katzen, tragen exzentrische Hüte und sagen Dinge, die man nicht sagen dürfte. Wir machen uns ein schönes lustiges Leben.“
Jane schüttelte traurig den Kopf. „Nein, es wäre kein schönes Leben. Und du kannst mir nicht einreden, dass du glücklich damit bist.“
„Ich fühle mich wohl in meiner Situation, mir fehlt es an nichts. Im Übrigen habe ich mir meine Verbannung selbst zuzuschreiben. Ich bin ein flatterhaftes Ding, vergiss das nicht. Aber du verdienst einen Mann, der dich wirklich liebt.“
„Du bist nicht flatterhaft. Und wir beide verdienen einen Mann, der uns liebt. Hast du denn noch immer nicht begriffen, dass wir nicht immer bekommen, was wir verdienen?“ Jane reichte ihr den Briefumschlag. „Warum schauen wir uns die Einladung nicht an? Vielleicht bietet sie uns ein wenig Abwechslung.“
Miranda warf ihrer Freundin einen zweifelnden Blick zu, bevor sie den Umschlag öffnete. Da er von einer zierlichen Damenhand beschriftet war, konnte de Malheur nicht der Absender sein. Dennoch war sie enttäuscht, als sie die Einladung las. Der Duke und die Duchess of Carrimore gaben sich die Ehre, sie anlässlich ihres
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