Zeit der Hingabe
ihr in den Nacken, während ihr Tanzherr sie im Kreis herumwirbelte. Sie trug einen strengen Nackenknoten, ihre Maske war festgesteckt, und sie musste nicht befürchten, erkannt zu werden. Durfte nach Herzenslust tanzen und flirten, durfte lachen und sich amüsieren, und niemand würde ahnen, dass eine Wolke der Schmach über ihr hing.
Bei einem Maskenball galten etwas zwanglosere Gepflogenheiten: Die Herren waren nicht verpflichtet, sich für einen bestimmten Tanz in der Tanzkarte einer Dame vormerken zu lassen. Und Miranda wechselte ständig die Partner, ihre Füße flogen schwerelos über das Parkett, sie wiegte sich anmutig zu den beschwingten Klängen, ließ keinen Tanz aus, bis der Kapellmeister den Taktstock beiseitelegte und das Mitternachtsdinner angekündigt wurde. Die Gäste sammelten sich zu Paaren und begaben sich in den Speisesaal, um sich an dem üppigen Büffet zu laben. Miranda aber entschuldigte sich bei ihrem Tanzherrn und sonderte sich ab. Ihre Seidenmaske verdeckte mehr als die Hälfte ihres Gesichts, und es stand zu befürchten, sie beim Essen zu beschmutzen. Im Übrigen könnte ihr das helle Licht im Speisesaal gefährlich werden.
In einem dunkleren Winkel des Ballsaals zog sie die Kapuze wieder tief in die Stirn. Es war leichtsinnig, ein scharlachrotes Cape zu tragen, allerdings war die Kostümierung vieler Gäste wesentlich auffallender. Sie schlenderte in Richtung der fülligen Matronen, allesamt in düsteres Schwarz gekleidet, die von ihren Stühlen an der Wand aus ihre Schützlinge streng bewachten.
Es bereitete Miranda einige Genugtuung, den Damen ein freundliches Lächeln zu schenken, als sie sich in einigem Abstand von ihnen auf einem Polstersessel niederließ. Wenn sie gewusst hätten, wer die Dame im roten Domino war, hätten sie Miranda mit tiefer Verachtung gestraft. Mit ihrem Fächer aus roter Spitze verschaffte sie sich ein wenig Kühlung und war froh, ihren brennenden Füßen eine kurze Rast zu gönnen. Solange sie bei den Matronen saß, würde kein Herr ihr anbieten, sie in den Speisesaal zu begleiten.
Das Geschwätz der klatschsüchtigen Damen, die an allem und jedem etwas auszusetzen hatten und immer wieder versuchten, sie ins Gespräch zu ziehen, war ihr bald zuwider. Sie erhob sich, nickte der schnatternden Schar freundlich zu und entfernte sich. Sie sehnte sich danach, den stickigen Saal zu verlassen und etwas frische Nachtluft zu schnappen. Aber es gab keine hohen Flügeltüren, die auf eine Terrasse geführt hätten. Irgendwann entdeckte sie an der Wand im Halbdunkel zwei zierliche Stühle an einem kleinen Tisch, zu denen sie sich flüchtete, in der Hoffnung, Jane würde irgendwann nach ihr suchen und ihr vielleicht ein Stück Kuchen bringen, das sie heimlich verzehren könnte.
Sie hörte ihn nicht kommen. Allerdings drang lebhaftes Stimmengewirr, Lachen und Gläserklirren durch die offenen Flügeltüren des angrenzenden Speisesaals, das Orchester hatte erneut zu spielen begonnen, und die ersten Paare drehten sich wieder auf dem Parkett.
„Haben Sie sich müde getanzt, Lady Miranda?“
Unverkennbar Lucien de Malheurs wohlklingend tiefe Stimme, so überraschend, dass Miranda erschrocken hochfuhr, sehr zu ihrem Verdruss. Sie hätte zu gern vorgegeben, ihn nicht zu erkennen, aber dafür war es zu spät. Also versuchte sie, sich aus der peinlichen Situation zu retten. „Lord Rochdale?“, fragte sie kühl. „Ich hätte nicht erwartet, Sie hier anzutreffen.“
„Tatsächlich? Die Carrimores führen ein offenes Haus. Selbst ein verrufener Krüppel wie ich ist ihnen willkommen.“
„Ebenso eine Frau mit beschädigtem Ruf wie ich“, erklärte sie liebenswürdig. „Lassen Sie sich nicht aufhalten, Mylord. Sie haben gewiss andere Verpflichtungen.“
Er sah sie lange schweigend an. „Ich scheine Sie irgendwie gekränkt zu haben. Womit habe ich mir Ihren Unmut zugezogen?“
Das konnte sie ihm unmöglich gestehen, ohne sich lächerlich zu machen. „Aber nein, keineswegs“, widersprach sie arglos.
Das dünne Lächeln um seine Lippen störte sie. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, sein Narbengesicht hinter einer Maske zu verbergen. Er trug einen Abendanzug von höchster Eleganz aus schwarzer, mit Silberfäden durchzogener Seide. Ein großer funkelnder Rubin zierte seinen Stock aus poliertem Ebenholz. „Freut mich sehr, das zu hören. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Ich warte auf jemanden.“
„Tatsächlich?“
„Ja“, versicherte sie.
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