Zeit der Hingabe
Selbst ihr griesgrämiger Bruder Charles bestätigte ihr gelegentlich, dass sie eine bemerkenswerte künstlerische Begabung hatte. Dieses Haus war wie eine riesige, verstaubte, von Motten zerfressene, leere Leinwand, und wenn sie schon hier gefangen war, wollte sie ihren Gestaltungsdrang walten lassen.
Sie entließ Bridget, wünschte ihr eine gute Nacht, klemmte einen Stuhl unter die Türklinke und kroch in das breite Bett. Mittlerweile hatte sich eine behagliche Wärme in dem schäbig möblierten Zimmer ausgebreitet, aber Miranda lag hellwach in den Kissen und langweilte sich. Es gab nichts zu lesen, niemanden, mit dem sie reden konnte, kein Klavier, um darauf zu klimpern. Gab es in diesem alten Kasten überhaupt irgendwo ein Klavier? Wenn ja, war es mit Sicherheit völlig verstimmt. Wie viele Schlafzimmer gab es eigentlich? Und wie viele Salons? Sie hatte nur einen kleinen muffigen Salon gesehen, und Lucien hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Es gab gewiss einen großen offiziellen Speisesaal, vielleicht auch ein Damenzimmer und …
Verflixt, sie hatte keine Lust, hellwach im Bett zu liegen und zu grübeln. Sie warf die Bettdecke zurück, schlüpfte in die seidenen Hausschuhe, die Bridget ihr bereitgestellt hatte, zündete die Kerzen eines mehrarmigen Leuchters am Kaminfeuer an und begab sich auf Erkundungstour.
Erst als sie die Treppe ins Erdgeschoss hinuntergehuscht war, kam ihr der Gedanke, sie könne dem Earl irgendwo begegnen, der ihre Neugier vielleicht falsch verstehen und zudringlich werden könnte. Beinahe hätte der Mut sie verlassen. Aber das Haus war still und leer, sie war die Einzige, die auf leisen Sohlen durch die Dunkelheit schlich. Sie und Scharen von Mäusen.
In einem kahlen Raum, ehemals vermutlich als Musikzimmer genutzt, entdeckte sie tatsächlich einen Konzertflügel und daneben eine eingestaubte Harfe. In halbrunden Mauernischen standen pausbäckige Engel aus Gips und spielten allerlei Instrumente. Sie wischte den Staub von der Klavierbank, öffnete den Deckel und spielte eine Mozartsonate. Zu ihrer Verwunderung war der Flügel gestimmt, demnach musste jemand in diesem Haus regelmäßig darauf spielen. Wer das sein könnte, war ihr allerdings schleierhaft.
Es gab drei Salons verschiedener Größen, ein Frühstückszimmer, ein Kontor – einst von einem Gutsverwalter genutzt, mittlerweile aber lagen Geschäftsbücher und vergilbte Papiere unter einer dicken Staubschicht. An den Wänden hingen ausgestopfte, von Motten zerfressene Hirschköpfe mit stattlichen Geweihen und unzählige alte Waffen, um die das Britische Museum den Hausherrn beneidet hätte. Sollte sie gezwungen sein, ihre Ehre mit Waffengewalt zu verteidigen, wusste sie, wo sie suchen musste. Der Gedanke gab ihr einen gewissen Trost.
Luciens Arbeitszimmer war der einzige Raum, der einigermaßen staubfrei war und offenbar benutzt wurde. Die Dienstboten hatten dafür gesorgt, dass das Feuer im Kamin nicht erlosch, falls der Hausherr erscheinen sollte. Über eine Stuhllehne war eine Decke aus feiner Wolle geworfen, die Miranda sich um die Schultern legte.
Sie setzte ihre Erkundung fort, entdeckte an einer Stirnseite eine Doppeltür und stieß sie auf, in Erwartung, einen Ballsaal vorzufinden. Stattdessen betrat sie die größte Bibliothek, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Und zum ersten Mal, seit sie Luciens niederträchtige Absichten durchschaut hatte, durchströmte sie ein Glücksgefühl. Es dauerte nicht lange, bis sie ein Buch nach ihrem Geschmack fand, einen Roman eines französischen Autors, der unterhaltsame Lektüre versprach. Die Bibliothek verfügte über nicht weniger als sechs gepolsterte Fensterbänke hinter schweren Vorhängen. Sie wählte die erste Bank, stellte den Kerzenleuchter neben sich auf einen kleinen runden Tisch, hüllte sich in die warme Decke und vertiefte sich in das Buch.
Lucien de Malheur kehrte in denkbar schlechter Laune in das kalte unwirtliche Haus zurück. Als er den Entschluss gefasst hatte, seine Braut wider Willen hier gefangen zu halten, hatte er nicht bedacht, dass er zumindest vorübergehend gezwungen war, selbst hier zu wohnen.
Vor allem die Wintermonate waren hier im Norden kaum zu ertragen. Bisweilen war man völlig eingeschneit. Kälte, Wind und wochenlanger Regen schlugen aufs Gemüt. Pawlfrey House war vor Jahrhunderten als Trutzburg erbaut worden, keineswegs als Lustschloss.
Kein idealer Ort, um eine entführte Braut glücklich zu machen, aber danach stand
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