Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
ein wenig Frieden zu finden. Eine weißblonde Frau in einem Rollstuhl hatte alles möglich erscheinen lassen. Sogar die Vorstellung, seine Alpträume jemandem anzuvertrauen. Sein Gewissen zu entlasten, damit er wieder etwas anderes als blanke Verzweiflung empfinden konnte.
Doch ein weiterer Brief, der direkt auf diesen ersten gefolgt war, hatte seine guten Absichten im Keim erstickt. Er hatte ihm jede Hoffnung genommen. Jetzt war er froh, dass er nicht in den Norden reisen würde. Froh, dass ihm erspart geblieben war, was ein unnützes Unterfangen gewesen wäre. Er hatte sich eingeredet, die Liebe würde alles ändern. Stattdessen wäre es darauf hinausgelaufen, dass er sich lächerlich gemacht hätte.
Aber solche Proteste klangen sogar in seinen eigenen Ohren hohl und Hamish beschimpfte ihn unablässig als Feigling.
Auch nach seiner Heimkehr hielt ihn die schottische Stimme noch wach, indem sie ihn abwechselnd verhöhnte und anklagte.
Er lag da und zählte die Stunden, die eine nach der anderen von der Standuhr geschlagen wurden, während seine Gedanken von einem beunruhigenden Bild zum nächsten wanderten. Ein schmaler Weg, der sich durch dichte Schneewehen wand. Das Gesicht eines Kindes. Eine Frau, die im kalten Licht des Schnees in einer offenen Tür stand, die Hände auf beiden Seiten gegen den Türrahmen gestemmt, während der Raum hinter ihr so dunkel wie ein Grab dalag. Das Geräusch einer Waffe, die abgefeuert wurde, der laute Knall in der beengten Küche, der selbst jetzt noch in seinen Ohren nachzuhallen schien.
Er drehte sich im Bett um und versuchte, eine bequemere Lage zu finden - eine Benommenheit, die zum Schlaf führen könnte.
Stattdessen fiel ihm der Gesichtsausdruck von Mrs. Channing wieder ein, als sie ihn vor wenigen Stunden begrüßt hatte - dieser flüchtige Eindruck von Mitgefühl und das Verständnis in ihren Augen, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
Oder ihn früher schon einmal gesehen.
In Frankreich?
Er starrte die Wände seines Schlafzimmers an, die im Dunkeln kaum zu sehen waren.
Warum hatte sie ihn so eindringlich an den Krieg und die Schützengräben erinnert? Oder lag es nur an dieser verfluchten
Patronenhülse, die er noch gar nicht ausgepackt hatte? Sie steckte immer noch in der Tasche seines Fracks.
Sowie er in einen unruhigen Schlaf versunken war, begann er, wie so oft, vom Krieg zu träumen, und wurde mit einem Ruck wach, als der Pfiff ertönte, um seine Männer zum Sturmangriff zu schicken - er konnte die Schützengräben riechen, das Schießpulver, den sauren Schweiß der Furcht, in den seine Männer trotz der Kälte getaucht waren. Er konnte das raue Holz der Leiter fühlen, das Grauen angesichts dessen, was ihnen bevorstand, das Warten auf das leise Geräusch einer Kugel, die ihr Ziel traf, und dann fiel neben seinem Ellbogen jemand zu Boden. Er konnte die Schreie hören, das ohrenbetäubende Maschinengewehrfeuer, während sie sich in die öde Hölle des Niemandslands begaben und eilig dem unsichtbaren Feind entgegenliefen …
Und dann war er wahrhaftig wach, und die Geräusche und Gerüche und die grauenhaften Seelenqualen, die es mit sich brachten, seine Toten zu zählen, wichen in die Dunkelheit des vertrauten Zimmers zurück.
Sein Blick fiel auf den zweiten Brief, der auf seinem Schreibtisch lag und dessen Papier im Licht des Morgengrauens einen schwachen weißen Schimmer aufwies. Die Worte kannte er inzwischen auswendig.
»Komm nicht nach Westmorland zurück …«
Die Trostlosigkeit, die er beim ersten Auseinanderfalten dieses einen Blattes empfunden hatte, überkam ihn von Neuem heftig.
Wie kann man lernen, wieder zu leben, dachte er, wenn keine Hoffnung besteht? Wenn es keine Wärme und kein Gelächter gibt?
Er lag da und bemühte sich, an nichts zu denken, nicht zu träumen und sich an nichts zu erinnern, bis es hell wurde.
Meredith Channing lag ebenfalls bis zum Morgengrauen wach, denn ihr Gemüt war nicht bereit oder nicht fähig, Ruhe zu finden.
Das also war Ian Rutledge, dachte sie, dieser große, gut aussehende, gehetzte Mann.
Ganz und gar nicht das, was sie erwartet hatte. Als sie ihre Gäste einen nach dem anderen abhandelte, hatte Maryanne Browning gesagt: »Er war vier Jahre lang in Frankreich und lässt sich jetzt nicht mehr oft auf Partys blicken. Ein solcher Jammer! Er und Peter haben sich bei Scharaden geschickter angestellt als jeder andere von uns, und es hat immer großen Spaß gemacht. Aber seine Schwester hat
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