Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
eingeritzt worden. Schleifen und Windungen, keine Initialen.
Hunderte von Soldaten hatten sich während der langen Nachtwachen mit derlei Dingen beschäftigt. Oder wenn sie sich beim Warten auf den nächsten Angriff tödlich langweilten. In Krankenhäusern und Genesungsheimen waren Männer, um sich die Zeit während des Heilungsprozesses zu vertreiben, dazu angespornt worden, Dinge wie Knopflochsträußchen, Vasen, Zigarettenanzünder und sogar Spazierstöcke aus leeren Hülsen jeder Größe herzustellen. Sogar aus den kupfernen Führungsringen der Artilleriegranaten und aus Schrapnellklumpen waren Souvenirs gebastelt worden. Um sich in Geduld zu üben.
Im Licht der nächsten Straßenlaterne versuchte Rutledge, das Muster zu erkennen, doch das war zwecklos, denn er konnte nichts sehen, nur das Funkeln der polierten Oberfläche.
Im Grunde genommen spielte das Muster gar keine Rolle. Ihn interessierte weitaus mehr, wie ein solcher Gegenstand ausgerechnet hierher geraten war, vor das Haus, in dem er zu Gast gewesen war.
Hamish sagte gerade: »Das hat nichts zu bedeuten. Die Hülse ist einem Passanten aus der Tasche gefallen.«
»Ich habe sie fallen hören. Und das hätte auch derjenige gehört, der sie mit sich herumgetragen hat. Weshalb hätte er sich nicht danach bücken sollen?«
»Sie ist doch nichts wert.«
»Wer hätte wissen können, dass ich vorzeitig aufbrechen würde?« Es hätte ebenso gut Dr. Gavin sein können, sagte er sich. Der an ein Totenbett gerufen wurde. Oder Mrs. Channing, die sich nach der Séance verabschiedete, damit Maryannes Gäste hinter ihrem Rücken ungestört über die Darbietung des Abends reden konnten.
Keiner von beiden war in den Schützengräben gewesen.
»Ich würde mir das nicht so sehr zu Herzen nehmen.«
»Eine Patronenhülse hat hier nichts zu suchen.«
»Das stimmt schon, aber das macht sie noch lange nicht unheimlich.«
Und doch war genau das der Fall. Es war, als hätte der Krieg auf gänzlich unerwartete Weise die Hand nach ihm ausgestreckt und ihn wieder berührt.
»Diese Frau hat dich aus dem Gleichgewicht gebracht.«
Vielleicht war das alles, was dahintersteckte. Aber die Hülse in seinen Fingern war real vorhanden. Er hatte sie sich nicht eingebildet. Wie war sie hierhergekommen?
Hamish war verstummt und gab ihm keine Antwort.
Nach einem Moment ließ Rutledge die Patronenhülse in die Tasche seines Fracks gleiten. Dann wandte er sich vom Haus der Brownings ab und machte sich auf den langen Heimweg.
Der Spaziergang hatte Rutledge keineswegs zur Ruhe kommen lassen, sondern ihm reichlich Zeit gegeben, über andere Dinge nachzudenken. Die Briefe auf seinem Schreibtisch. Einer von ihnen kam von David Trevor, seinem Patenonkel. Und eben diese Erinnerung an Schottland und an das, was dort vor ein paar Monaten vorgefallen war, hatte Hamish geweckt und ihn murrend auf den Plan gerufen.
David hatte in aller Eile geschrieben …
Der kleine Ian hat die Masern, und ich habe ihn Morags und Fionas Pflege anvertraut. Ich bin in meinen Club in Edinburgh verbannt worden und fühle mich elend und unglücklich, weil ich sein erstes Weihnachtsfest bei uns verpasse. Wir haben uns so sehr auf deinen Besuch gefreut, doch der Arzt rät von jeder Aufregung ab. Ich habe dem Jungen ein Pony versprochen, wenn er brav in seinem verdunkelten Zimmer bleibt und kein Theater macht. Mehr darf ich nicht tun. Du könntest einen Sattel ausfindig machen und ihn rechtzeitig losschicken, damit er am zweiten Weihnachtsfeiertag oben im Norden ist, wenn du magst …
Dieser Besuch war dazu gedacht gewesen, Dinge zu bereinigen.
Rutledge hatte seinen Patenonkel zum letzten Mal im September gesehen, kurz bevor Fiona und das Kind bei Trevor eingezogen waren. Es war ihm schwergefallen, der jungen Frau, die Hamish heiraten wollte, ins Gesicht zu sehen, der Frau, deren Namen Hamish im Tod auf den Lippen gehabt hatte. Noch schwerer war es ihm gefallen, ihre Freundschaft anzunehmen, wenn er selbst nur zu genau wusste, dass er persönlich für den Tod von Hamish MacLeod verantwortlich war. Das war ein Schatten, der drückend zwischen ihnen lag, obwohl er ihr nie die Wahrheit gestanden hatte.
Und doch hatte er sich gesagt, als er vor knapp drei Wochen die verschneiten Berge von Westmorland hinter sich zurückgelassen hatte, vielleicht sei jetzt der richtige Zeitpunkt gekommen, um wieder nach Schottland zu fahren, sich dem Durcheinander zu stellen, das er aus seinem Leben gemacht hatte, und
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