Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
Decke zu hüllen und sie in seiner Kutsche in seine Praxis mitzunehmen. Blut war durch ihr Kleid gesickert, und sie hatte ihre Hände auf den Falten der Decke geballt, als wollte sie den Anblick verbergen. Ihre Mutter war in einer zweiten Kutsche mit einer ältlichen Tante gefolgt, einer dürren, bleichen Frau, die unter Schock zu stehen schien. Sogar der ehemalige Soldat, der neben den Pferden stand, spiegelte ihre Betäubung wider und hatte das Gesicht abgewandt.
Sowie die Angelegenheit erledigt war und es ihm freistand, nach London zurückzukehren, war Rutledge stattdessen ans Meer gefahren, hatte seinen Wagen stehen lassen und war zu den Klippen hinuntergelaufen. Dort drüben lag Frankreich. Es hieß, während des Krieges seien die großen Kanonen hier an der Küste Englands zu hören gewesen. Aber jetzt schwiegen sie barmherzig. Und das schon seit einem Jahr und zwei Monaten.
Wenn er auf dieses Jahr zurückblickte, konnte er sein eigenes langes Ringen ums Überleben erkennen. Die Belastung, die Anspannung und Hamish, der ihm in seinem Hinterkopf laufend zusetzte, hatten ihren Tribut gefordert. Jean, die ihn verlassen hatte, um einen anderen zu heiraten … Die nach wie vor ungeklärten Angelegenheiten mit seinem Patenonkel in Schottland. Und jetzt auch noch der Brief aus Westmorland.
Hatte er sich dort oben im Norden tatsächlich verliebt? Oder hatte er sich von diesen unbeschwerten häuslichen Momenten in der Küche betören lassen, in denen das Leben so einfach und behaglich erschien? Ein einsamer Mann hätte solche kurzen Atempausen irrtümlich für Gefühle halten können, die nicht vorhanden waren - auf keiner von beiden Seiten.
Er konnte sich nicht mehr sicher sein, obwohl er sich seine eigenen Gefühle immer wieder vergegenwärtigt hatte.
Elizabeth Frasers Brief hatte mit den Worten geendet:
Es ist besser für mich, da, wo ich bin, als genau das, was ich bin, so weiterzuleben wie bisher, als mir einzubilden, ich könnte mich in eine andere Welt einfügen. Ich habe in London eine Vorgeschichte. Es würde nichts nutzen, so zu tun, als sei es nicht so. Und ich will die Erinnerungen dort nicht wecken. Sie wären zu schmerzlich. Komm nicht nach Westmorland zurück, Ian. Ich bitte dich darum. Allein bin ich sicherer …
Er war zu müde für den Versuch, sich einen Reim darauf zu machen. So lange Hamish da war und in den Schatten seines Gemüts lebte, wäre es ohnehin Wahnsinn, jemanden zu lieben. Es war leichtsinnig, die Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Schließlich hätte er beinah Elizabeths Tod verschuldet. Er erschauerte. Und was hätte er dann getan? Sie als seine verlorene Liebe betrauert? Aus Schuldbewusstsein?
Er konnte Hamishs höhnisches Gelächter hören.
Ein kleiner Stein, den sein Schuh gelockert hatte, rollte zum Rande der Klippe hinunter und schlitterte darüber, ins Leere. Er beobachtete, wie sich der Stein überschlug und dann tief unten im Meer verschwand.
Es wäre so einfach, dem Stein über den Rand der Klippe zu folgen, mit einem einzigen Schritt, und dem Ringen ein Ende zu bereiten, der Ungewissheit ein Ende zu bereiten, die Stimme zum Verstummen zu bringen und die gespenstischen Gesichter von Männern, die er angeführt und im Stich gelassen hatte, zu zerschmettern. Die Vorstellung war verlockend. In gewisser Weise bot sie die Lösung, die er in der Hoffnung vor sich hergeschoben hatte, irgendwie bestünde doch noch eine Chance auf Heilung.
»So einfach ist das nicht«, sagte Hamish. »Wenn du runterspringst, ändert es nichts an der Vergangenheit. Und es kann auch nichts daran ändern, was du bist. Dann wirst du tot sein
und ich auch. Du wirst mich zweimal getötet haben. Auch das wird auf deiner Seele lasten.«
Die Stimme, die der Wind aus dem Nichts zu ihm trug, war eindeutig die eines Schotten, und sie war hart wie Stahl. Nach einem Moment wandte sich Rutledge ohne eine Antwort um und machte sich auf den Rückweg zu seinem Wagen, den er ein Stück weiter oben abgestellt hatte.
Er hatte die Kurbel bereits angeworfen und hörte, wie der Motor im Leerlauf lief. Er wollte gerade einsteigen, als ihm auf dem Fahrersitz etwas ins Auge fiel.
Es war eine weitere Patronenhülse. Genauer gesagt, zwei, die mit einem kurzen Stück von einem Munitionsgurt zusammengebunden waren. Jemand hatte sie aufgesammelt und in seinen Wagen geschleudert, denn normalerweise wurden die Hülsen beim Abfeuern aus der Waffe ausgeworfen. Er hob die beiden Hülsen auf und starrte sie
Weitere Kostenlose Bücher