Zeit der Raben - Ein Inspektor-Rutledge-Roman
versprochen, ihn zu überreden.«
»Ist er schwer verwundet worden?«, hatte sie gefragt.
»Er war einige Monate lang im Krankenhaus, ich bin nicht sicher, warum. Frances hat es mir nie gesagt. Aber offenbar ist es nichts Ernstes. Er ist wieder beim Yard. Die Frau, die er heiraten wollte, hat die Verlobung natürlich gelöst, sowie er nach Hause gekommen ist, und einen anderen geheiratet. Das muss ein vernichtender Schlag für ihn gewesen sein. Es hat uns allen schrecklich leid für ihn getan, aber ich persönlich mochte Jean nie besonders. Ich fand, er hätte etwas viel Besseres finden können.« Und dann waren die ersten Gäste eingetroffen und Mrs. Browning war aufgestanden, um sie zu begrüßen.
Mrs. Channing hatte keine Veranlassung gesehen, ihrer Gastgeberin zu sagen, dass sie Ian Rutledge schon einmal gesehen hatte, wenn auch nur kurz und aus der Ferne. Sie hatte ihn nicht in dieses alberne Geschehen am Tisch einbeziehen müssen, um seine Geheimnisse in Erfahrung zu bringen.
Der Krieg, dachte sie, hat derart verheerende Folgen für die Lebenden - für die Toten - und für diejenigen, die nicht mehr sicher sind, wohin sie gehören.
Aber daraus konnte sie keinen Trost schöpfen. Es gab gewisse Dinge, die sich durch Erklärungen nicht ausräumen ließen.
Grace Letteridge lag ebenfalls wach. Die Frau, die dienstags bei ihr sauber machte, hatte ihr berichtet, sie hätte Constable Hensley aus Frith’s Wood herauskommen sehen.
»Ich habe die Weihnachtsglocken für den Pfarrer auf den Dachboden gebracht. Das Fenster war so stark verstaubt, dass ich meinen Lappen rausgezogen habe, um den schlimmsten Schmutz abzuwaschen. Und da konnte ich gerade noch sehen, wie er auf seinem Fahrrad davongefahren ist wie ein Gehetzter. Ich kann beim besten Willen nicht verstehen, warum er dort hingeht. Man sollte meinen, er würde sich fernhalten, wie alle anderen auch.« Sie schüttelte den Kopf und machte sich Gedanken über die Dummheiten, die der Constable anstellte. »Aber er ist keiner von uns, stimmt’s?«, fügte sie hinzu. »Sonst wüsste er es.«
Schuldbewusstsein, dachte Grace, als sie jetzt wach lag. Gewissensbisse bringen die Leute dazu, Dummheiten zu machen. Es kann sogar so weit gehen, dass sie sich selbst verraten.
Sie drehte sich auf die Seite, denn sie wollte nicht an Hensley denken - und auch nicht an Emma.
Emma war tot, und doch hätte sie ebenso gut noch am Leben sein können. Was hatten die alten Römer schnell noch mal geglaubt? Dass ein Geist ziellos umherwanderte, wenn der Körper nicht ordentlich bestattet worden war? Emmas Geist wanderte umher. Dessen war sich Grace sicher, und es ließ sie keinen Frieden finden.
Jemand wusste, was Emma Mason zugestoßen war. Jemand kannte das Geheimnis. Und Grace war überzeugt davon, dass es sich bei dieser Person um Hensley handelte.
Weshalb sonst war es ihm nicht gelungen, Emmas Mörder zu finden?
3.
MITTE JANUAR 1920
Rutledge stand auf den Klippen über Beachy Head Light. Unter ihm bewegten sich die grauen Wassermassen des Atlantiks in wütenden Strudeln und krallten sich in das Land. Um ihn herum schien sich das Gras zu wiegen und zu tanzen und wie verstörte Stimmen in den Echos des Windes zu wispern.
Er war hierhergekommen, nachdem er vierundzwanzig schwierige Stunden darauf verwendet hatte, einen angehenden Mörder zu zwingen, dass er sich stellte und die Geiseln freiließ, die er in einem kleinen Häuschen außerhalb der Ortschaft Belton genommen hatte. Der Mann, müde und unrasiert, ohne Reue und stumm, hatte keine Erklärung dafür abgegeben, dass er seine Frau niedergestochen hatte. Er ging mit den Wachtmeistern, ohne ihnen Ärger zu machen, und Inspector Pearson, der für diesen Bezirk zuständig war, hatte lediglich gesagt: »Ich war überzeugt davon, dass er am Ende seine ganze Familie umbringen würde. Es ist ein Wunder, dass er es nicht getan hat. Er hatte schließlich nichts mehr zu verlieren. Wir können ihn nur einmal hängen.«
»Er wusste nicht, wohin er hätte gehen können«, hob Rutledge hervor. »Und woher die Wut auch rühren mochte, die ihn angestachelt hat - sie war endlich verraucht.« Er konnte die Augen der Schwiegermutter des Mannes immer noch vor sich sehen. Sie hatte ihn mit unverhohlener Erleichterung angestarrt und etwas in ihrem Gesicht hatte so erstarrt gewirkt,
als sei sie binnen vierundzwanzig Stunden um Jahre gealtert. Ihre Tochter, die vor Erschöpfung und Schmerz zitterte, hatte dem Arzt gestattet, sie in eine
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