Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Gang schalten musste. Er blickte durch die Windschutzscheibe auf die Straße, die sich rund um den Berg wand. Dann bog Harper auf die Route 26 ab und fuhr das letzte Stück in Richtung Westen, bergabwärts, auf Portland zu.
Es war ein atemberaubender Anblick, vor allem bei Nacht. Wolkenfetzen, die hoch oben dahinjagten, heller Mondschein und Sternenhimmel. In den Hangrinnen schimmerte der Schnee. Und unter ihnen funkelten die Lichter der Stadt, die wie ein Kunstwerk aus grauem Stahl aufragte.
»Bei so einem Anblick«, meinte Harper, »verstehe ich durchaus, dass das Vagabundendasein seinen Reiz hat.«
Reacher nickte. »Und auf dieser Welt gibt es noch viel, viel mehr zu sehen.«
Sie fuhren durch eine Stadtrandsiedlung namens Rhododendron
und sahen dann einen Wegweiser zu der Ortschaft, in der Rita Scimeca wohnte. Noch fünf Meilen. Es war fast drei Uhr morgens, als sie dort ankamen, die Hauptstraße entlangfuhren, an der Tankstelle und dem Supermarkt vorbei, die beide geschlossen hatten, bis zu der Querstraße, die nach Norden in die Berge führte. Harper bog ab. Links und rechts zweigten weitere Querstraßen ab. Scimeca wohnte in der dritten, die in Richtung Osten in die Berge führte.
Schnell hatten sie das Haus gefunden. Es war das einzige in der Straße mit hell erleuchteten Fenstern, und außerdem stand eine Limousine des FBI davor. Harper hielt unmittelbar dahinter an. Das Rückfenster der Limousine war so beschlagen, dass sie nur eine schemenhafte Gestalt erkennen konnten. Dann ging die Tür auf, und ein junger Mann in einem dunklen Anzug stieg aus. Reacher und Harper reckten sich, lösten die Sicherheitsgurte und stiegen ebenfalls aus. Standen in dichte Atemwolken eingehüllt in der kühlen Nachtluft.
»Sie ist da drin, sicher und unversehrt«, sagte der einheimische Agent. »Ich sollte hier auf euch warten.«
Harper nickte. »Und dann?«
»Dann bleibe ich hier draußen«, erwiderte der Typ. »Ihr müsst mit ihr reden. Ich schiebe hier Wache, bis um acht Uhr morgens die hiesigen Cops die Sache übernehmen.«
»Sind die Cops vierundzwanzig Stunden im Einsatz?«, fragte Reacher.
Unglücklich schüttelte der Agent den Kopf.
»Zwölf«, sagte er. »Nachts bin ich dran.«
Reacher nickte. Das sollte reichen , dachte er. Das Haus war ein großer, viereckiger Holzbau, der mit der Seitenwand zur Straße stand, so dass die weitläufige Veranda mit dem verschnörkelten Geländer gen Westen wies. Da die Straße bergauf führte, war unter der Front des Hauses Platz für eine Garage, deren Tor sich seitlich unter dem Ende der Veranda befand. Die Auffahrt war nur kurz. Das Gelände
stieg steil an, so dass man einen Teil des Kellergeschosses in den Hang gebaut hatte. Das Grundstück war klein und von einem hohen Sturmzaun umfriedet, der sich bergaufwärts zog. Der Garten sah gepflegt aus.
»Ist sie wach?«, fragte Harper.
Der einheimische Agent nickte. »Sie erwartet euch.«
17
Ein Fußweg zweigte links von der Einfahrt ab und führte in weitem Bogen durch einen im Dunkeln liegenden Steingarten zu der breiten Holztreppe in der Mitte der vorderen Veranda. Harper sprang leichtfüßig hinauf, aber unter Reachers Gewicht knarrten die Stufen in der Stille der Nacht, und noch ehe das Echo von den umliegenden Hängen widerhallte, wurde die Haustür geöffnet, und Rita Scimeca stand vor ihnen. Sie hatte die Hand am inneren Türknauf und blickte sie mit ausdrucksloser Miene an.
»Hallo, Reacher«, sagte sie.
»Scimeca«, erwiderte er. »Wie geht’s Ihnen?«
Sie schob sich mit der freien Hand die Haare aus der Stirn.
»Einigermaßen, wenn man bedenkt, dass es drei Uhr morgens ist und das FBI mir soeben mitgeteilt hat, dass ich gemeinsam mit zehn meiner Schwestern auf einer Art Abschussliste stehe und vier von uns bereits tot sind.«
»Man tut eben was für Ihre Steuergelder«, meinte Reacher.
»Und was, zum Teufel, haben Sie mit denen zu schaffen?«
Er zuckte die Achseln. »Aufgrund gewisser Umstände blieb mir keine andere Wahl.«
Sie blickte ihn nachdenklich an. Es war kalt auf der Veranda. Leichter Bodennebel stieg auf, und auf den gestrichenen
Planken schlug sich der Tau nieder. Hinter Scimecas Schulter schimmerten die Lichter im Haus warm und einladend.
»Gewisse Umstände?«, wiederholte sie.
Er nickte. »Dadurch blieb mir keine andere Wahl.«
Sie nickte ebenfalls. »Na ja, was auch immer, jedenfalls ist es irgendwie schön, Sie wieder zu sehen.«
»Geht mir genauso.«
Sie war groß. Kleiner als
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