Zeit der Rache: Ein Jack-Reacher-Roman (German Edition)
Harper zwar, aber das waren die meisten Frauen. Und sie war muskulös, nicht so kräftig wie Alison Lamarr, sondern eher hager, wie eine Marathonläuferin. Sie trug saubere Jeans und einen unförmigen Pullover, dazu feste Schuhe. Sie hatte mittellanges Haar mit langen Ponyfransen über den leuchtend braunen Augen. Tiefe Falten zogen sich um ihren Mund. Es war fast vier Jahre her, seit er sie zum letzten Mal gesehen hatte, und dementsprechend älter wirkte sie auch.
»Das ist Special Agent Lisa Harper«, erklärte er.
Scimeca nickte misstrauisch. Reacher konnte sich vorstellen, dass sie einen männlichen Agenten vermutlich von der Veranda geworfen hätte.
»Hi«, sagte Harper.
»Na, dann kommt doch rein«, forderte Scimeca sie auf.
Sie hatte nach wie vor die Hand am Türknauf und stand vornübergebeugt auf der Schwelle, als wollte sie keinen Schritt vor die Tür machen. Harper trat ein, und Reacher folgte ihr. Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Sie befanden sich im Flur eines ganz passablen Hauses, das frisch gestrichen und möbliert war. Sehr sauber, geradezu peinlich ordentlich. Es wirkte wie ein echtes Zuhause, warm und gemütlich. Sehr persönlich. Wollteppiche lagen am Boden, die alten Mahagonimöbel glänzten wie frisch poliert, an den Wänden hingen Bilder, und überall standen Vasen voller Blumen.
»Chrysanthemen«, sagte Scimeca. »Ich ziehe sie selbst. Gefallen sie Ihnen?«
Reacher nickte.
»Sehr«, erwiderte er. »Auch wenn ich sie nicht buchstabieren könnte.«
»Gärtnern ist mein neues Hobby«, erklärte Scimeca. »Ich habe mich mit Feuereifer darauf gestürzt.«
Sie deutete zu einem Salon im vorderen Teil des Hauses.
»Und die Musik«, sagte sie. »Kommt mit.«
Dezente Tapeten zierten den mit blank polierten Holzdielen ausgelegten Raum. In der hinteren Ecke stand ein großer Konzertflügel. Glänzend schwarzer Lack, ein deutscher Name, in Messingbuchstaben eingraviert. Davor ein breiter, mit schwarzem Leder gepolsterter Hocker. Der Deckel des Flügels war hochgestellt, und auf dem Notenständer über der Klaviatur lag eine cremefarbene, dicht an dicht mit Notenzeichen bedruckte Partitur.
»Wollt ihr irgendwas hören?«, fragte sie.
»Klar«, sagte Reacher.
Sie setzte sich auf den Hocker, legte die Hände auf die Tasten, hielt einen Moment inne und schlug dann einen schwermütigen Moll-Akkord an. Es war ein warmer, tiefer Ton, mit dem sie zum Auftakt eines Trauermarsches überleitete.
»Haben Sie nicht irgendetwas Heitereres auf Lager?«, fragte Reacher.
»Mir ist nicht nach Heiterkeit zumute«, erwiderte sie.
Trotzdem fing sie von Neuem an und spielte die ersten Töne der Mondscheinsonate.
»Beethoven«, erklärte sie.
Die silberhellen Arpeggios erfüllten den Raum. Sie hatte den Fuß auf dem rechten Pedal, so dass die Töne leise und gedämpft klangen. Reacher blickte aus dem Fenster auf die grau im Mondschein schimmernden Pflanzen. Neunzig Meilen weiter westlich lag ein endlos weiter, stiller Ozean.
»Schon besser«, sagte er.
Sie spielte bis zum Ende des ersten Satzes, anscheinend aus dem Gedächtnis, denn über dem Notenblatt auf dem Ständer stand Chopin . Sie ließ die Hände auf den Tasten liegen, nachdem der letzte Akkord verklungen war.
»Hübsch«, bemerkte Reacher. »Ihnen geht’s also gut?«
Sie wandte sich vom Flügel ab und sah ihm in die Augen. »Meinen Sie damit, ob ich mich davon erholt habe, dass ich von drei Typen vergewaltigt wurde, denen ich mein Leben anvertrauen sollte?«
Reacher nickte. »So was Ähnliches, nehme ich an.«
»Ich dachte, ich hätte es überstanden«, sagte sie. »Besser als erwartet. Aber jetzt erfahre ich, dass mich irgendein Wahnsinniger umbringen will, weil ich deswegen Anzeige erstattet habe. Das versetzt einem doch einen gewissen Dämpfer, wissen Sie?«
»Wir werden ihn kriegen«, sagte Harper in der Stille, die darauf folgte.
Scimeca warf ihr nur einen Blick zu.
»Können wir uns die Waschmaschine im Keller mal ansehen?« , fragte Reacher.
»Es ist aber keine Waschmaschine, oder?«, versetzte Scimeca. »Auch wenn mir keiner Bescheid sagt.«
»Es ist vermutlich Farbe«, erwiderte Reacher. »In Eimern. Grüner Tarnanstrich, wie er bei der Army üblich ist.«
»Wozu?«
»Der Kerl bringt seine Opfer um, legte sie in die Wanne und übergießt sie damit.«
»Wieso?«
Reacher zuckte die Achseln. »Gute Frage. Damit ist derzeit ein ganzer Haufen Schlauköpfe beschäftigt.«
Scimeca nickte und wandte sich an Harper. »Sind
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