Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zeit der Raubtiere

Zeit der Raubtiere

Titel: Zeit der Raubtiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liza Klaussmann
Vom Netzwerk:
und sagte: »Entschuldige, hast du Feuer?«
    Ich griff in meine Tasche. Für solche Situationen habe ich immer ein Feuerzeug dabei. Ich betrachtete sie, während ich ihre Zigarette anzündete. Sie hatte helles Haar und trug einen großen Schlapphut aus Stroh, der einen Schatten auf die Schultern warf. Sie hatte Sommersprossen.
    »Dank dir«, sagte sie.
    Ich war sofort fasziniert von ihr. Sie hielt eine Karte der Insel in der Hand, wie man sie im Touristenbüro in Woods Hole bekam.
    »Fährst du zum ersten Mal auf die Insel?«, fragte ich sie.
    »Ja.« Sie sah mich unter ihrem Hut hervor an, ein kurzer Blick, dann wieder weg.
    »Und wo wohnst du?«
    »In einem Bed and Breakfast in Oak Bluffs.«
    Sie tat sehr geschäftig mit der Karte, deshalb stellte ich keine weiteren Fragen, sondern wartete ab. Nach einer Weile holte ich meinen getreuen Gedichtband aus der Tasche und begann darin zu blättern. Ich spürte, dass sie wieder zu mir herübersah.
    »Ach, William Blake«, sagte sie.
    »Ja.« Ich hob den Blick.
    »Ich liebe William Blake. Ginsberg nennt ihn einen Propheten.«
    Ich sah sie schweigend an.
    »Also, jedenfalls hat er das gesagt.«
    »Wieso Prophet?«, fragte ich.
    Sie lachte. »Weiß ich eigentlich auch nicht.«
    Ich grinste.
    »Tut mir leid, ich störe dich.«
    »Du störst mich nicht.«
    »Ich heiße Penny«, sagte sie.
    »Ed.«
    »Sag mal, würde es dir was ausmachen, auf meine Tasche aufzupassen, während ich aufs Klo gehe?« Sie rückte ihren Hut so zurecht, dass sie mich besser sehen konnte.
    »Ja, ich passe drauf auf.«
    Ich sah ihr nach, wie sie zur Tür ging, die zum Unterdeck führte. Ihre Zehen zeigten nach innen. Sichelfüße. Ich zog ihre Tasche näher heran, öffnete den Reißverschluss ein kleines Stück und schob die Hand hinein. Ich fühlte etwas Seidiges und zog es heraus. Es war ein Halstuch mit lauter Röschen, so ein Oma-Ding. Ich steckte es für später in meine Blazertasche.
    Dann lehnte ich mich zurück und ließ mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Ich überlegte, wie viele Bed-and-Breakfast-Unterkünfte es in Oak Bluffs geben könnte, und machte mir eine Liste von denen, die mir spontan einfielen. Die Schiffshupe verkündete, dass wir uns der Anlegestelle näherten, und mir fiel ein, dass ich immer noch keinen Plan für das Problem hatte, das mich zu Hause erwartete.
     
    Ich höre die Schritte der Krankenschwester auf dem Linoleum, bevor ich sie sehe. Witsch, witsch. Dann taucht plötzlich ihr Gesicht über mir auf. Wenn sie sieht, dass meine Augen offen sind, lächelt sie.
    »Heute ist ein großer Tag«, sagt sie, während sie Leintuch und Wolldecke glatt streicht. »Besuchstag.«
    Sie überprüft die Infusionsflasche.
    »Sie sind ein richtiger Glückspilz, wissen Sie das?«
    Wenn ich könnte, würde ich lachen.
    »Nicht jeder hat so eine Mutter. Manche kriegen nie Besuch, nie. Eine Schande ist das!« Sie schnaubt vor Empörung und verschwindet einen Moment lang aus meinem Blickfeld.
    Dann kommt ihre körperlose Stimme von der Tür her. »Bei Ihnen dagegen – jeden Donnerstag, wie mit der Stechuhr.«
    Dieses Gespräch führen wir jeden Donnerstag, wie mit der Stechuhr. Immer wenn es so weit ist, bräuchte ich wahrscheinlich auch dann nichts mehr zu sagen, wenn ich sprechen könnte.
    Unvermittelt ist ihr Gesicht wieder über mir, wie ein Ballon.
    »Möchten Sie Radio hören?« Sie schaltet es ein und verlässt das Zimmer.
     
    Sie hören Ten-Ten- WINS . Sie geben uns zweiundzwanzig Minuten, wir geben Ihnen die Welt.
     
    Die polizeilichen Ermittlungen in dem Mord an einem Taxifahrer in San Francisco vor wenigen Tagen haben nun Hinweise darauf erbracht, dass es sich bei dem Täter um denselben Mann handeln könnte, der für vier im Verlauf des vergangenen Jahres verübte und bisher nicht aufgeklärte Morde in der Bay Area verantwortlich ist.
    Beim »San Francisco Chronicle« ging ein Brief ein, dessen Absender sich Zodiac nennt. Beigelegt war ein blutiger Stoffstreifen, der offensichtlich vom T-Shirt des letzten Opfers abgeschnitten wurde. Die Polizei lässt das Material derzeit labortechnisch untersuchen, um festzustellen, ob das Blut daran mit der Blutgruppe des Opfers übereinstimmt.
    In einer makabren Mitteilung verhöhnt der Verfasser des Briefs die Polizei mit den Worten: »Hier spricht der Zodiac. Ich bin der Mörder des Taxifahrers Ecke Washington Street und Maple Street. Die Polizei von San Francisco hätte mich gestern Nacht schnappen können, wenn sie den Park ordentlich

Weitere Kostenlose Bücher