Zeit der Raubtiere
Stirn. Sein Mund stand offen, und er schnarchte leise. Sein Sabber hatte einen dunklen Fleck auf dem Kissen hinterlassen.
Mich überkam ein merkwürdiges Gefühl, als ich da stand. Enttäuschung und auch etwas Wut. Er war mir mehr ein Vater gewesen als jeder andere, und ich hatte ihn mir immer ewig stark und unbeirrt vorgestellt. Seine Hände um Elenas Hals, ohne eine Sekunde, ohne einen Augenblick des Zögerns. Aber da lag nun dieser alte Mann und schnarchte in seinem Haus mit den gemieteten Möbeln und hatte keine Ahnung, dass ein Fremder eingebrochen war und ihm beim Schlafen zusah.
Ich warf einen Blick auf die Mülltüte. Es war die Sache nicht wert. Ich hätte gern mit ihm gesprochen, ihn gefragt, was passiert war, herausgefunden, was ihn zu dieser harmlosen, kaputten Null gemacht hatte. Aber das ging nun einmal nicht. Ich zog mein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und holte das zerfledderte Streichholzbriefchen aus dem Hideaway heraus, das ich immer bei mir trug. Ich legte es behutsam auf das Nachtschränkchen, warf einen letzten Blick auf den Mann, der mich geschaffen hatte, und ging hinaus.
Oktober 1969
I ch habe Daisy einmal über die Liebe ausgefragt, wie sie sich anfühlt, und sie sagte, Liebe sei wie Tennis. Ich glaube, sie meinte damit, dass Liebe wie das Gefühl ist, das sie beim Tennisspielen hat, und lange stellte ich mir dabei zwei Spieler vor, die sich kämpferisch gegenüberstehen und gegeneinander zu punkten versuchen. Aber seit ungefähr einem Jahr, seit ich nur noch in Krankenhäusern liege und nur Ärzte höre, die eintönig vor sich hin reden, und Krankenschwestern, die ständig irgendetwas daherplappern, während sie mich gesund zu machen versuchen, habe ich viel Zeit zum Nachdenken und zum Erinnern. Und in dieser Klinik hier, wo die Wände minzgrün gestrichen sind, ist nach und nach ein anderes Bild in mir entstanden: ein Mann und eine Frau und ein dunkles Treppenhaus. Was dort geschieht, das ist Liebe, wie sie ehrlicher nicht sein kann, weil sie, was ich schon lange geahnt habe, jäh und brutal ist und der Schaden, den sie bewirkt, ewig währt.
Es war im letzten Sommer, dem Sommer nach meinem Besuch bei Frank Wilcox. Anfang Juni war ich wieder in Tiger House. Daisy und Tyler hatten immer noch nicht geheiratet, sie nannte es eine »lange Verlobungszeit«. »Ty hat so wahnsinnig viel zu tun«, hatte sie erklärt, als ich sie an Weihnachten danach fragte, und ich hatte mich in dem Glauben gewiegt, es könnte vielleicht nie dazu kommen. Doch dann wurde die Hochzeit auf August festgesetzt, und im Juni gab es keinerlei Anzeichen für eine eventuelle Trennung. Deshalb begann ich mich wieder mit dem Tante-Nick-Tyler-Problem zu beschäftigen.
Während der Überfahrt auf die Insel versuchte ich eine Lösung zu finden. Ich holte mir einen Kaffee und ging an Deck, um nachzudenken. Es war früher Nachmittag, ein Samstag, und die Island Queen gesteckt voll mit Tagesausflüglern und Hippies. Ich setzte meine Ray Ban auf, damit ich nicht blinzeln musste, und konzentrierte mich auf meine Aufgabe.
Die reizvollste Option bestand natürlich darin, Tyler aus dem Weg zu räumen. Aber sie hatte ihre Risiken. Erstens war er ein Mann und ziemlich stark, was wiederum bedeutete, dass ich ihn hätte überrumpeln müssen – mit höchstwahrscheinlich hässlichem Ausgang. Zweitens wollte Daisy ihn. Ich verstand zwar nicht, warum, aber ich wusste, wie es sich anfühlte, etwas zu wollen, und das wollte ich ihr nicht wegnehmen.
Tante Nick war leichter allein zu erwischen. Sie konnte beispielsweise durchaus an irgendeinem Abend im Dunkeln einfach so vom Anlegesteg des Jachtclubs stürzen und im Hafenbecken landen. Oder ein Badeunfall unten am Bootssteg. Jeder wusste, dass sie nachts schwimmen ging, wenn sie betrunken war.
Aber ich wollte Tante Nick nicht töten. Nicht, weil ich sie mochte, sondern weil sie ein so starker Mensch war. Vielleicht aber auch, weil sie unser Leben trotz ihrer Doppelzüngigkeit aufregender machte. Ich weiß auch nicht, aber irgendetwas in mir sperrte sich dagegen.
Ich erinnerte mich daran, wie ich sie viele Jahre zuvor beim Sex mit diesem Musiker beobachtet hatte. Sie hatte ihn mit einem Bein umschlungen, als er auf ihr lag, und strich ihm sanft über den Nacken. Aber ihr Gesichtsausdruck! Voller Hass und Ekel. Jedenfalls war das Ganze so wild, dass ich einen Moment lang glaubte, sie würde ihn zerreißen.
Während ich noch daran dachte, beugte sich ein Mädchen zu mir herüber
Weitere Kostenlose Bücher